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Roger Boyes: Sarrazin und die türkische Frisurenkunst

Kein Rassist, lediglich ein Störenfried: "Times"-Korrespondent Roger Boyes über die Einsichten und Fehler des Thilo Sarrazin.

Vor einem Jahr hat ein türkischer Entrepreneur eine Kebab-Bude eröffnet, gegenüber von meinem Bäcker und direkt am Eingang zum S-Bahnhof Grunewald. Am Anfang gab’s Döner und Börek, dann kamen Zeitungen dazu, Kaffee und gegrillte Hühner. Schließlich die Currywurst. Seit letzter Woche ist sein Laden geschlossen. Traurig, aber das Geschäftsmodell war auch alles andere als brillant. Grunewald ist nicht für seine lebendige türkische Gemeinde bekannt, keiner, der hier lebt, ist unter 68 und, spräche man die Nachbarn auf Kanakdeutsch an, holten die die Polizei.

Natürlich hat jeder in unserem abgeschiedenen und durch und durch konservativen Kiez über Thilo Sarrazin geredet. Er ist eine Art Märtyrer geworden, einer, der die Wahrheit spricht, ein Held, der sich gegen die erstickende politische Korrektheit zur Wehr setzt. Ich weiß, die Geschichte ist komplexer. Er nutzt seine fachmännisch ausgewerteten Statistiken aus, um eine Reihe widersprüchlicher Argumente zu machen. Am Ende ist nicht klar, ob er uns etwas über Intelligenz und Rasse, über Bildung und Finanzen, über die Wissenschaft das nationalen Untergangs sagen möchte. Das Buch ist eine Stammtischmischung. Aber ich habe Sarrazin immer gemocht. Jemand, der eine englische Großmutter hat und einmal von Hartmut Mehdorn rausgeschmissen wurde, kann kein schlechter Mensch sein. Er ist auch kein Rassist, lediglich ein Störenfried. Er hat schließlich hugenottische Gene. Er ist jedoch naiv.

Sarrazins wahrer Fehler lag nicht darin, dass er Muslime und Juden beschimpft hat – das kann jeder –, sondern dass er dachte, er wäre die Speerspitze einer Bewegung, die verbotene Fragen über die Einwanderung stellt. In Wahrheit hat er nur das Spätsommerloch gefüllt (zusammen mit dem Kanibalenrestaurant in Berlin und Frank-Walter Steinmeiers Niere). Sobald Sarrazin richtig vom Bundespräsidenten entlassen ist, wird er seine Funktion erfüllt haben: einen Skandal zu produzieren. Er wird Bücher verkaufen, aber das politische Establishment nicht überzeugen, dass es sich ändern muss.

Der SPD-Vorstand wäre schlecht beraten, Thilo Sarrazin ebenfalls aus der Partei zu schmeißen. Wenn ich das Buch richtig verstehe, beschäftigt sich Sarrazin vor allem mit der Unterschicht. Immigranten bilden einen signifikanten Teil dieser Schicht, aber Deutsche auch. An einer Stelle schlägt er vor, die staatliche Unterstützung nicht auszuzahlen, wenn Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Das ist der bestrafende Sarrazin, den man lieben oder hassen kann. Die Arbeitsthese ist jedoch, dass die Unterschicht aufgebrochen, sozial durchlässiger werden muss. Das ist die Kernbotschaft jeder modernen sozialdemokratischen Partei. Sarrazin ist kein fanatischer Rechter.

Vielleicht hätte man ihn nicht gleich verdammt, wenn er zugegeben hätte, dass einige Immigranten sich sehr wohl bemühen, in der deutschen Gesellschaft aufzusteigen (die Vietnamesen zum Beispiel), oder Vorschläge gemacht hätte, wie die türkische Community stärker motiviert werden könnte. Ich habe schon einmal über eine Freundin geschrieben, Ayfer, die inzwischen einen schicken Friseursalon in Mitte hat: eines von vielen Kindern einer Gastarbeiterfamilie, früh aus der Schule raus, aber mit einer Leidenschaft für die Frisurenkunst. Der zweite Bildungsweg erlaubte es ihr, das Abitur zu machen, dann Vidal Sassoon, Tony & Guy, Meisterbrief. Sie wollte ihren eigenen Salon aufmachen, aber die Bank machte nicht mit: das Risiko – alleinstehend, weiblich, Friseuse, türkisch – war ihnen zu groß. Ayfers Eltern gaben ihr schließlich das Geld, das sie für ihr Alter in der Türkei zurückgelegt hatten. Heute hat sie vier deutsche Angestellte und ist natürlich selbst deutsch.

Was lernen wir daraus? Dass das deutsche System den Ehrgeizigen Chancen einräumt – aber auch Widerstände in den Weg stellt. Niemand muss eine Zeile von Walther von der Vogelweide kennen, um sich auf eine deutsche Zukunft für ihre deutsch-türkische Tochter einzulassen – wie es Ayfers Eltern getan haben. Das sind die Mechanismen sozialer Integration. Wir sollten die Hysterie abstellen und uns die Probleme ungeschminkt anschauen (dafür brauchen wir Sarrazin auch weiterhin), um zu sehen, was funktioniert. Jede größere europäische Gesellschaft hat ähnliche Probleme; es ist an der Zeit, dass Deutschland sich mit einigen seiner Nachbarn austauscht und sich öffnet. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ob alles perfekt wäre.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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