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Roma in Berlin: Raus aus dem Raster

90 Menschen scheinen durch ihre schiere Anwesenheit die Verwaltung einer europäischen 3,4-Millionen-Metropole zu überfordern. Der Fall in Berlin zeigt: Europa weiß nicht, wie es mit den ungeliebten Roma umgehen soll.

Sind 90 Menschen in der Lage, die Verwaltung einer 3,4-Millionen-Metropole durch ihre schiere Anwesenheit zu überfordern? Wer die Debatte um die Roma in Berlin verfolgt, die die Polizei vor Wochen aus ihrem Freiluftlager in Kreuzberg holte, könnte diesen Eindruck bekommen. Bezirke und Senat erklären abwechselnd Zu- und Nichtzuständigkeiten, Worte wie „Notlage“ und „Überbrückungsgeld“ pressen die Ankömmlinge in die Kategorien des deutschen Sozialgesetzbuchs. Und selbst die aus der linken Kreuzberger Szene, die sich als Beschützer der Roma sehen, scheinen sich mit der Staatsgewalt in der Analyse selten einig: Wer hier kein Dach überm Kopf hat, muss sofort in sozialstaatliche Betreuung.

Vielleicht haben ja alle Beteiligten ein Standardbild vom Leben im Kopf, in das die Roma nicht passen. In ganz Europa nicht. Der Milliardär und Mäzen George Soros, dessen Open Society Institute Roma-Projekte auf dem Balkan organisiert, beklagt, dass sich Brüssel ausgerechnet für die Roma, die das gesamteuropäische Volk schlechthin sind, nicht engagiere. Er mag übertreiben. Es gibt Roma-Abgeordnete im europäischen Parlament und es gibt die „Roma-Dekade“, mit der sich 12 süd- und südosteuropäische Staaten sowie die EU verpflichtet haben, bis 2015 die Lebensbedingungen der Roma zu verbessern.

Aber es trifft genauso zu, dass viele Roma in der grenzenlosen Wohlstandssphäre Europa in größter Armut leben und nicht nur auf dem Balkan Übergriffen bis hin zum Mord ausgesetzt sind. Während des Kosovokrieges wurden auch sie Ziel „ethnischer Säuberungen“, im nachsozialistischen Osteuropa geht es ihnen teils schlechter als zuvor. Und Alteuropa tut alles, um sich die ungeliebten Zigeuner vom Hals zu halten. Als Rumänien und Bulgarien vor ihrem Beitritt zur EU von der Visumpflicht für ihre Bürger befreit wurden, mussten sie sich stillschweigend verpflichten, die Roma zurückzuhalten. Wer’s dennoch in den Westen schafft, muss mit dem Hass einer nicht geringen Zahl europäischer Mitbürger rechnen. In Neapel genügte vergangenes Jahr das uralte Gerücht, eine Roma habe ein italienisches Kind gestohlen, um den Mob zum Brandanschlag auf ein Roma-Camp anzustacheln.

Müssen wir in Berlin uns für all das interessieren? Nein, müssen wir nicht. Schließlich spielt derzeit nicht einmal eine Rolle, dass Sinti und Roma nach den Juden die größte Opfergruppe des NS-Völkermords waren. Dessen Planer hatten ihre Schreibtische in dieser Stadt. Wer all das weiß, hat aber vielleicht etwas mehr Schwung, das längst Notwendige zu tun: Eine Politik des Umgangs mit Menschen zu finden, die nicht in unsere Raster passen und die die Betreuung deutscher Sozialämter womöglich nicht einmal wollen. Dazu muss man nicht romantisieren oder ignorieren, was die hier anreisenden Clans an kleinerer und größerer Kriminalität mitbringen. Man muss aber auch nicht so tun, als brächten 90 Roma eine Metropolenverwaltung zum Einsturz. Oder gar den Ordre publique.

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