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Thilo Sarrazin: Neues Buch, neue Empörung.

© dpa

Sarrazin zu Holocaust und Euro-Krise: Lust an der Empörung

Thilo Sarrazin nimmt das H-Wort in den Mund und die Reflexe kommen wie gewünscht. In der allgemeinen Empörung gehen aber allzu leicht naheliegende Fragen unter. Malte Lehming über die neuerliche Sarrazin-Debatte und darüber, warum das Buch eigentlich ein halbes Jahr zu spät kommt.

Wer die deutsche Nachkriegsgeschichte verstehen will, muss die deutsche Kriegsgeschichte kennen. Hitler, Holocaust und Zweiter Weltkrieg sind essenziell für fast alle Entwicklungen der Deutschen – und ihre Debatten – nach 1945. Teilung, Westbindung, Wiederbewaffnung und Nato-Beitritt, 68er Generation, Datenschutz, Volkszählungsboykott, Friedensbewegung, Historikerstreit, Goldhagen-Kontroverse, Wiedervereinigung, Günter-Grass-Gedicht: Keines dieser Ereignisse lässt sich ohne Rekurs auf die deutsche Vergangenheit vollständig erklären. Es wäre seltsam, wenn es anders wäre.

Thilo Sarrazin verknüpft in seinem neuen Buch („Europa braucht den Euro nicht“) auch die deutsche Europolitik mit der deutschen Vergangenheit. Über die Befürworter von gemeinsamen  europäischen Staatsanleihen schreibt er, sie seien „getrieben von jenem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir alle unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben“. Das ist natürlich polemisch überspitzt, aber ausgerechnet die deutsche Europapolitik ohne die deutsche Geschichte verstehen zu wollen, wäre absurd.

Von Helmut Schmidt bis Helmut Kohl finden sich Dutzende von Reden, in denen explizit eine Brücke geschlagen wird vom deutschen historischen Erbe zur daraus resultierenden Verantwortung für die europäische Einigung. Die Wiederaufnahme der Deutschen in die Gemeinschaft der Völker, die Sicherung des Friedens – auch Peer Steinbrück nannte es am Sonntagabend bei Günther Jauch „geschichtsvergessen“ und „geschichtsblind“, diese Kernanliegen der deutschen Europapolitik ohne historische Folie zu betrachten.

Was also erklärt die erneute Empörungslust, mit der sich einige Medien und politische Repräsentanten auf Sarrazin stürzen? Reinhold Robbe, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und langjähriger SPD-Politiker, sagt: „Das ist so schwachsinnig, dass man darüber gar nicht diskutieren sollte. Mit Sarrazin sollte sich niemand mehr in eine Talkshow setzen.“ Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast sagt: „Nationalistischer Unsinn von Sarrazin passt nicht zum Bildungsauftrag eines öffentlich-rechtlichen Senders.“ FDP-Generalsekretär Patrick Döring sagt: „Sarrazin verknüpft die Frage der historischen Verantwortung Deutschlands unzulässig mit der aktuellen währungspolitischen Debatte. Das hat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nichts zu suchen.“ Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sagt: „Man kann den Holocaust leugnen oder ihn wie Thilo Sarrazin zur Verbreitung antieuropäischer Rechtspopulismen instrumentalisieren. Beides ist gleich unerträglich.“ Und die Kollegin Mely Kiyak beklagt in der „Berliner Zeitung“ die „Verplemperung unserer Fernsehgebühren für diese lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur, die Sonntagabend in Ruhe das tun darf, was er am besten kann; das niedrigste im Menschen anzusprechen. Ich meine Sarrazin.“

Bildergalerie: Sarrazin und der Berliner Schlabberlook

Instrumentalisiert Sarrazin den Holocaust? Eher wirft er doch anderen dessen Instrumentalisierung vor. Und selbst, wenn: Joschka Fischer hat den Holocaust instrumentalisiert, als er aus Auschwitz die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg ableitete; Gegner der deutschen Wiedervereinigung leiteten daraus die Teilung ab; für Angela Merkel folgt daraus die Sicherheit Israels als „deutsche Staatsräson“. Statt sich also über Sarrazin zu echauffieren, könnte man diesen auch fragen, ob wir nicht mit dem Euro als Strafe für Auschwitz angesichts unserer Verbrechen relativ gut gefahren sind. Was wäre schon die angemessene Strafe für Auschwitz? Selbst mit der Umsetzung des Morgenthauplans wären die Deutschen ja eher glimpflich davongekommen.

Doch auf die naheliegenden Fragen kommt bei Sarrazin keiner. Das war schon bei seinem letzten Buch („Deutschland schafft sich ab“) so. Statt seine Statistiken über eine angeblich größere Verbrechensrate bei Migranten und deren niedrigeres Bildungsniveau zum Anlass zu nehmen, um mehr Mittel für Bildung und Integrationsprojekte zu fordern, was ja die einzig mögliche praktische Konsequenz aus der Diagnose ist, wurden die Zahlen bezweifelt, damit nicht die Mär ins Wanken gerät, dass in Sachen Integration alles paletti ist.

Sarrazins Euro-Buch freilich kommt ein halbes Jahr zu spät. Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung ohne politische Union ein Fehler war, die Aufnahme Griechenlands in den Verbund ohnehin, dass aber ein plötzliches Raus aus dem Euro grottenverkehrt wäre. Am Auffälligsten bei Jauch war, wie einig sich Sarrazin und Steinbrück sind.

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