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Meinung: Schröders Rede: Jetzt greift er nach der Geschichte

Die Bedeutung der Regierungserklärung, die der Bundeskanzler gestern abgegeben hat, hat sich jedem mitgeteilt, der sie verfolgt hat. Aber es sind nicht allein die entschiedenen Positionen und ihre entschlossene Tonlage, die ihr ein historisches Profil geben.

Die Bedeutung der Regierungserklärung, die der Bundeskanzler gestern abgegeben hat, hat sich jedem mitgeteilt, der sie verfolgt hat. Aber es sind nicht allein die entschiedenen Positionen und ihre entschlossene Tonlage, die ihr ein historisches Profil geben. Gerhard Schröders Rede bekommt ihr Gewicht dadurch, dass in ihr ein Wandel kulminiert und mit großem Nachdruck festgeklopft wurde, der ihn selbst, seine Generation und in gewissem Sinne die Bundesrepublik insgesamt betrifft. Was der Kanzler vor dem Bundestag eingefordert hat, das ist jene neue Verantwortung der Deutschen, von der seit der Wiedervereinigung immer wieder die Rede war, überwiegend herzlich diffus. Angesichts der säkularen Herausforderung durch den Terrorismus gewinnt dieses Postulat nun eine bedrängende Wirklichkeit.

Zum Thema Online Spezial: Kampf gegen Terror Hintergrund: US-Streitkräfte und Verbündete Schwerpunkt: US-Gegenschlag, Nato und Bündnisfall Schwerpunkt: Osama Bin Laden Schwerpunkt: Afghanistan Chronologie: Terroranschläge in den USA und die Folgen Fotostrecke: Bilder des US-Gegenschlags Umfrage: Befürchten Sie eine Eskalation der Gewalt? Schröder hat keine Zweifel daran gelassen, für wie ernst er die Situation hält und wie ernst er es meint. Dass die Solidarität mit den Vereinigten Staaten "uneingeschränkt" sein werde, hatte er schon nach dem Ausbruch der Krise erklärt, zum Erstaunen vieler Beobachter. Seine Rede hat diese Versicherung nun ausgefüllt. Es könne und dürfe nicht Leitlinie deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sein - so lautet der Eckstein der neuen Doktrin -, dass die Bundesrepublik zwar internationale Verantwortung übernimmt, dabei aber jedes unmittelbare Risiko zu vermeiden sucht.

Man wird sicher in Schröders Rede einen Nachhall des seelischen Fegefeuers erkennen können, das er vor zwei Tagen beim Anblick des ungeheuren Kalvarienberges in Manhattan erlebt hat. Doch drückt sich in ihr auch ein Reifeprozess aus, den man ihm noch vor ein paar Jahren kaum zugetraut, ja, den er selbst von sich vermutlich nicht erwartet hätte. Vom Brioni-Mantel zum Griff nach dem Mantel der Geschichte? Die Lage ist zu ernst, um sie ironisch zu nehmen. Eine Generation, die im Verdacht des Hedonismus steht, sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, den Standort Deutschlands in der Welt neu zu bestimmen. Und es ist ein Mann, der als Medienkanzler an die Macht kam, der es unternimmt, die deutsche Politik außen- und sicherheitspolitisch aus ihrer Befangenheit herauszuführen.

Dabei ist offenkundig, dass der Weg, den Schröder eingeschlagen hat, eine Gratwanderung ist. Die erstaunliche Geschlossenheit der Deutschen wird abbröckeln. Die Groß-Demonstration, die Friedensgruppen für Sonnabend angekündigt haben, ist da nur ein erster Windstoß, ganz andere Turbulenzen könnten folgen. Schröder setzt dagegen die Versicherung des Festhaltens an Liberalität und Rechtsstaatlichkeit und das Angebot der Diskussion. Diese "weiche" Seite einer Rede, der es an Härte nicht fehlt, ist vielleicht ihre eigentliche Stärke. Der Krieg gegen den Terrorismus hat seine Heimatfront, gebildet von den Ängsten und Zweifeln, die in unserem Inneren schwelen. Auch an ihr muss er gewonnen, kann er verloren werden.

Die Terroranschläge und die Gegenschläge verlangen der westlichen Welt einschneidende Veränderungen ab. Sie sind für kein Mitglied leicht, aber für die Deutschen mit ihrer unsicheren Identität bedeuten sie eine besondere Herausforderung. Der jäh gewandelte Weltzustand katapultiert sie in eine Rolle, zu der sie bislang möglichst Distanz gehalten haben. Nun müssen sie, die an ihrer Vergangenheit nicht nur gelitten, sondern sich auch gern hinter ihr versteckt haben, sich der weltweiten Auseinandersetzung stellen. Viele, gerade in der rot-grünen Koalition, werden umdenken müssen. Schröder hat dafür ein unübersehbares Zeichen gesetzt.

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