zum Hauptinhalt

Meinung: Schröders verknoteter Witz

Die Pistole vor dem Kanzleramt und das staatliche Gewaltmonopol Von Sibylle Tönnies

Der größte Fortschritt in der Geschichte der Menschheit war die Monopolisierung der Gewalt. Sie ist auf Weltebene noch nicht gelungen; die Vereinten Nationen besitzen noch keine Exekutive, mit deren Hilfe sie ihre Entscheidungen gewaltsam durchsetzen können. Aber innerhalb der Nationen ist die Gewaltmonopolisierung durchgeführt und macht den inneren Frieden aus: Niemand darf Gewalt anwenden außer dem Staat; er hat das Privileg der legitimen Gewaltanwendung. Staaten, in denen sich diese Struktur auflöst, nennt man „failed states“, gescheiterte Staaten.

Die Einrichtung des staatlichen Gewaltmonopols wird von alters her als Gesellschaftsvertrag verstanden. Die Bürger geben ihre Waffen an eine Zentrale ab und versprechen ihr Gehorsam; im Gegenzug dafür genießen sie den Schutz des staatlichen Gewaltmonopols. Als sich in den germanischen Wäldern noch niemand unbewaffnet von seinem Haus entfernen mochte, waren die Bürger Athens schon stolz darauf, dass sie sich unbeschwert auf den Straßen bewegten konnten. Sie hatten nämlich eine Polis gegründet, die sie beschützte.

Die traditionelle Insignie der staatlich konzentrierten Exekutive ist das Schwert. Das passt heute nicht mehr. In den Waffenarsenalen liegen jetzt Schusswaffen. Richtigerweise würde sich die staatliche Macht heute die Pistole als Insignie wählen. Und sie tut es tatsächlich: Vor dem Bundeskanzleramt ist seit neuestem eine überdimensionale Pistole als Plastik aufgebaut. Sie hat allerdings eine Besonderheit: Ihr Lauf ist verknotet. Sie ist so unbrauchbar wie ein abgebrochenes Schwert. Die Archäologen der Zukunft, die sie einmal ausbuddeln, werden vor einem Rätsel stehen: Stellte sich hier ein „failed state“ dar? Nein. Wir Zeitgenossen ahnen, warum sich die staatliche Exekutive heute diese Selbstdarstellung gibt: Erstens handelt es sich um ein Kunstwerk, und ein Kunstwerk muss in unserer Zeit ironisch sein, paradox und verknotet.

Zweitens aber glaubt man an den Satz „Die Macht an sich ist böse“. Die untaugliche Pistole soll Friedfertigkeit zum Ausdruck bringen – die mangelnde Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Der Gewinn, den die Monopolisierung der Gewalt gebracht hat, ist in Vergessenheit geraten. Man möchte gar keine Gewalt mehr. Man möchte lieber Konsens und Diskurs. Man verdrängt, dass man sich nur deshalb in Sicherheit bewegt, weil hinter allen gesellschaftlichen Vorgängen – meistens unsichtbar im Hintergrund, aber unter der Rufnummer 110 wohl bewusst – die staatliche Gewalt steht. Weil sie Furcht erregt, braucht sie kaum eingesetzt zu werden. Sie schwebt als potenzielle Energie über der Gesellschaft.

Wenn sich der Staat jetzt die verknotete Pistole zur Insignie macht, tritt er symbolisch aus dem Gesellschaftsvertrag aus. Symbolisch weist er das ihm verliehene Privileg auf legitime Gewaltausübung zurück, symbolisch gibt er die Gewalt in die Gesellschaft zurück. Denn die verknotetete Pistole in der Hand des Staates hat die entsicherten Pistolen in den Hosentaschen der Bürger zum Pendant.

Eine andere Kopie der Skulptur steht im Gebäude der Vereinten Nationen. Dort stellt sie einen realen Zustand dar: Da die Staaten noch im Zustand der Anarchie leben und die Weltorganisation über keine Exekutive verfügt, ist die Insignie der verknoteten Pistole angemessen.

Die Skulptur beim Kanzleramt ist – zum Glück! – nur eine Anbiederung an einen auf Diskurs und Paradoxie gerichteten Zeitgeist. Ein dummer Witz.

Die Autorin lehrt Philosophie an der Universität Potsdam.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false