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Ratlos in der Krise: Jose Manuel Barroso, Kommissionspräsident.

© dpa

Schuldenkrise in der EU: Europäisierte Machtlosigkeit

Die Vereinigten Staaten von Europa: In der Krise nach "mehr Europa" zu rufen, ist nicht mehr als das Eingeständnis des eigenen Scheiterns, meint Moritz Schuller. Die Nationalstaaten wissen nicht mehr weiter.

In der Europäischen Union sind über 24 Millionen Menschen arbeitslos. So sieht das „wunderbare Projekt Europa“ also aus, von dem der Bundespräsident in Brüssel so begeistert geredet hat. Einmal in Schwung mischte sich Joachim Gauck, sonst der Freiheit verschrieben, noch in die verfassungsrechtliche Bewertung der Euro-Rettung ein („Ich sehe nicht, dass unsere Bereitschaft, Rettungsschirme aufzuspannen, durch das Bundesverfassungsgericht konterkariert wird“), um dann, wieder einmal, „mehr Europa“ zu fordern. Mehr von einem Europa, in dem so viele Menschen ohne Arbeit sind, ein Europa, das offensichtlich pleite ist?

Gauck ist nicht der Einzige, der auch angesichts der dramatischen Entwicklung in Spanien und der Rückkehr der Euro-Krise nach mehr Europa ruft. Merkel auch, Schäuble, und Barroso sowieso. Das Argument lautet, dass wir mit mehr Europa nicht in die Krise geraten wären. Warum eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik verhindert hätte, dass sich die europäischen Länder gemeinsam verschulden, bleibt dabei offen. Aber selbst, wenn uns ein mehr Europa vor der Krise bewahrt hätte, ist die Frage inzwischen eine andere: Bringt uns das mehr Europa, dem der Bundespräsident seinen Segen erteilt hat, auch aus der Krise heraus?

Das ist deshalb unwahrscheinlich, weil daran schon die nationalen Regierungen gescheitert sind. Europa ist überaltert und unproduktiv, es hat keine natürlichen Ressourcen und wendet sich überall ab von der traditionellen Politik. Die Stabilität in Europa ist nur deshalb noch so groß, weil die Dynamik des Kontinents so gering ist. Und gerade nun, da es von allem nur noch weniger geben kann, soll es plötzlich mehr Europa geben? Mehr Europa kann heute nichts anderes bedeuten, als dass die Verantwortung für die Arbeitslosenheere und für die katastrophale wirtschaftliche Lage nach Brüssel verschoben wird. Nicht die Macht, sondern die Machtlosigkeit wird europäisiert. Wie und wo die politisch organisiert wird, ist vielen offenbar inzwischen gleichgültig.

Wie gering die politischen Gestaltungsmöglichkeiten in Europa bereits sind, lässt sich leicht erkennen: Belgien hatte monatelang keine Regierung, ohne dass es auffiel; Griechenland wird längst von außen vorgeschrieben, was es zu tun hat; und in Deutschland kann jeder Jungpolitiker Minister oder auch Parteichef werden. Was soll er auch schon groß falsch machen?

Selbst die Piraten, denen in Deutschland ein Potenzial von 30 Prozent nachgesagt wird, sind nicht die Antwort auf eine machtlos gewordene Politik, sondern ihre Folge. Sie verkörpern keinen Protest gegen die inhaltliche Auszehrung der übrigen Parteien, sondern deren Vollendung. Die Piraten können das Gestaltungsvakuum, das die übrigen Parteien hinterlassen haben, schon deshalb nicht füllen, weil es immer weniger zu gestalten gibt. Direkte Demokratie in Krisenzeiten ist wie Mitbestimmung bei Schlecker: Plötzlich dürfen alle mitreden – darüber, wer von ihnen rausgeschmissen wird. In einem Land, in dem die politische Macht bereits verpufft ist, dürfen ruhig auch die Piraten nach ihr greifen.

Die Vereinigten Staaten von Europa, die immer weiter an Form annehmen, sind deshalb nicht Ausdruck von Europas Stärke, sondern von seiner Schwäche. Dass sich auch Deutschland darauf einlässt, zeigt, dass das Land eben auch nur relativ stark ist – im Vergleich mit den übrigen europäischen Ländern. Strukturell sieht Deutschland – trotz der aktuell guten Finanzlage – eher aus wie Griechenland.

Das „Beschäftigungspaket“, das die EU-Kommission am Mittwoch gefordert hat, damit die Arbeitslosigkeit in Europa endlich sinkt, macht ebenfalls deutlich, wie gering die Gestaltungsmöglichkeiten – auf europäischer wie auch auf nationaler Ebene – inzwischen sind: ein offener Arbeitsmarkt, Mindestlöhne, ein Onlineportal, das Jobsuchenden die europaweit offenen Stellen anbieten soll: Das ist, verglichen mit der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, nicht besonders eindrucksvoll. Aber warum sollte sich ein EU-Arbeitskommissar auch den Ärger einhandeln, den sich Schröder damals eingehandelt hat?

Die Verschiebung der politischen Verantwortung nach Brüssel, gern pathetisch überhöht als historisches Projekt, ist vor allem eben das: das Verschieben von Verantwortung für eine gescheiterte Politik. Nun mehr Europa zu rufen, ist das Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Dieses Europa ist keines, das politisch und wirtschaftlich gut aufgestellt seine eigene politische Struktur definiert. Europa ist in der Krise, weil jedes Land für sich in der Krise ist, und in der Krise sind die Gestaltungsmöglichkeiten gering. Der Satz des Bundespräsidenten „Als Europa sind wir stark, als Nationalstaaten nicht mehr stark genug“ stimmt nicht mehr. Als Europa sind wir bestenfalls gemeinsam schwach.

Der Ruf nach mehr Europa meint, dass die Herausforderungen, vor denen der Kontinent steht, vornehmlich strukturelle sind; dass mit einer Europäisierung der Politik bereits eine Lösung einhergeht. Doch das ist ein Missverständnis. In Wahrheit wird die Politik europäisiert, weil die Nationalstaaten nicht mehr weiterwissen. „Wir müssen Gestaltungskräfte entwickeln“, hat Joachim Gauck in Brüssel gesagt. Damit hat er zweifellos recht.

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