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Die nächste Stufe: Niedersachsen will das Sitzenbleiben mittelfristig abschaffen.

© dpa

Schule: Fördern statt Sitzenbleiben

Der Vorschlag aus Niedersachsen, das Sitzenbleiben abzuschaffen, ist keineswegs die Utopie von Kuschelpädagogen. Sitzenbleiber verursachen Kosten, die man besser in die individuelle Förderung der "Bremser" investieren sollte.

Beim letzten Abi-Treffen des angesehenen Berliner XY-Gymnasiums dominierten die Sitzenbleiber die Runde zahlenmäßig. Kein Wunder, am XY-Gymnasium waren Sitzenbleiber wirklich keine Exoten. Aus allen, die zum Abi-Treffen kamen, ist jedenfalls „doch noch was geworden“: Lucas hat Informatik studiert und verdient damit viel Geld, Kai ist Doktor der Chemie, Kerstin eine erfolgreiche Künstlerin und so weiter. Lucas, Kai und Kerstin können als lebende Beweise gelten: „Es hat uns nicht geschadet“ – offenbar sogar genutzt.

Solche Anekdoten kennt jeder. Das Sitzenbleiben scheint sogar als Elitenschmiede zu wirken, wenn doch sogar Bismarck, Thomas Mann oder Peer Steinbrück eine Ehrenrunde in der Schule gedreht haben sollen. Wer zum Klub gehört, kann sich als verkanntes Genie fühlen und später – als inzwischen nützliches Mitglied der Gesellschaft – dem überraschten Publikum mit Sündenstolz davon berichten. So war es schon zuzeiten der „Feuerzangenbowle“, und so ist es noch heute.

Eine Absichtserklärung der neuen Koalition in Niedersachsen, dies mittelfristig zu ändern, stößt nun auf wütende Reaktionen der Traditionalisten. Sie können sich eine Schule ohne Sitzenbleiber überhaupt nicht vorstellen. Denn wer das Sitzenbleiben abschafft, schafft ja schließlich nicht die schlechten Schüler ab, sagen sie.

Das ist wohl wahr. Aber schon seit der ersten Pisa-Studie weiß auch die breitere Öffentlichkeit, dass das Sitzenbleiben schwachen Schülern kaum hilft. Sie wurschteln sich auch im zweiten Anlauf mehr schlecht als recht durch. Denn geboten wird wieder der gleiche Unterricht, auf die Schwierigkeiten der Sitzenbleiber können die Lehrer wieder nicht eingehen. So werden die Schüler mit ihren Nöten letztlich alleine gelassen.

Darum taugt Sitzenbleiben als Fördermaßnahme nicht. Es wirkt nur als sinnlose Demütigung, es verbreitet Schulangst und häuslichen Stress. Das ist das Gegenteil von dem, was Schüler mit fachlichen Schwächen brauchen, nämlich neues Selbstvertrauen („Ich kann ja doch Mathe!“) und Spaß am Lernen.

Möglich wird das nur, wenn Lehrer rechtzeitig erkennen, dass ein Schüler zusätzliche Hilfe braucht. Die Pädagogen müssen die Schwächen genau identifizieren und dann einen Bildungsplan mit Zielen für Lehrer, Eltern und Schüler verabreden. Zusätzliches Personal muss bereitstehen, das nachmittags, vielleicht sogar in den Ferien, mit den Schülern gezielt üben kann. Das ist keine Utopie von Kuschelpädagogen, etwa in skandinavischen Ländern ist es der Alltag. Bei Pisa stehen diese Länder nicht trotzdem, sondern eben darum besser da als Deutschland. Dass Ehrenrunden nicht so zwangsläufig sind, wie manche nun behaupten, zeigt sich ja schon daran, dass es in Baden-Württemberg deutlich weniger Sitzenbleiber gibt als in Bayern.

Viele deutsche Lehrer bemühen sich darum, die Tradition zu überwinden und reichen vermeintliche „Bremser“ nicht mehr einfach nach unten durch. Das könnte ihnen leichter gemacht werden, würden die von den Sitzenbleibern verursachten Kosten lieber in die individuelle Betreuung gesteckt. Dann hätte auch das XY-Gymnasium keine Ehemaligen wie Michael mehr: Sitzenbleiber, die aus Verbitterung über die Schulzeit nicht zum Abi-Treffen kommen.

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