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Meinung: Seepferdchen mit Pilskrone

Von Pascale Hugues, Le Point

Im Leben jeder Frau gibt es obligatorische Zwischenstopps an merkwürdigen Orten, an denen man niemals Halt gemacht hätte, wäre da nicht ein kleiner Junge, der unbedingt noch vor dem Sommer Schwimmen lernen will. Die Caféteria des Hallenbads am Sachsendamm ist so eine Durchreisestation. Einmal in der Woche zwischen fünf und sechs finde ich mich inmitten eines Dekors wieder, als sei die Zeit stehen geblieben und es dem Wechsel der Moden aus unerfindlichen Gründen misslungen, Akkordeonlampen und weiße Bakelittische auszulöschen. Die 60er Jahre, die die Trendbars in Mitte unter Aufbietung abstruser Accessoires wiederherstellen wollen, existieren mitten in Schöneberg intakt und unverfälscht.

„Es hat aber was …“, sagt meine Tischnachbarin, der es genauso wenig wie mir gelingen will, den schrägen Charme dieses objektiv betrachtet so hässlichen Ortes zu definieren. „Es hat aber was …“ Nur die deutsche Sprache kann diffuse Eindrücke in einer so simplen Formel zum Ausdruck bringen. Die Caféteria des Hallenbads am Sachsendamm gehört zu den Orten, die ich ausländischen Besuchern zeigen würde, wenn ich die Seele Berlins vorführen müsste. Während die Kleinen mit fluoreszierenden Reifen in den indigoblauen Wellen des maritimen Paradieses jenseits der Glasscheibe schaukeln, versuche ich, durch den dichten Schleier des Zigarettenrauchs hindurch die Topographie zu ergründen. Die Nachbartische wirken wie kleine Vulkane kurz vor dem Ausbruch: Mit Kippe im Mundwinkel überwacht jeder Gast mit Adleraugen seinen kleinen Kevin oder Marvin, der im Becken mit den Beinchen strampelt.

Die Kränze aus Plastikblumen, die an der Decke aufgehängt sind – einst mauvefarben wie Glyzinien – haben ihre elastische Frische schon lange eingebüßt. In langen grauen Flechten schaukeln sie schlapp über unseren Köpfen. Kerzen beleuchten intim die zwei tapferen Tulpen, die auf jedem Tisch um ihr Überleben kämpfen, während im Radio ein Schlagersänger Liebesschwüre säuselt … Wenn ich ein wenig die Augen schließe, fühle ich mich, als stünde ich an Sams Klavier gelehnt in der Bar in Casablanca – die allerdings in einen stadtplanerischen Schraubstock geraten ist, auf der einen Seite begrenzt vom Stumpf einer nie zu Ende gebauten Autobahn, auf der anderen Seite von der Dominicusstraße, einer „Königsallee“, die zu Ikea führt. Sie würde es verdienen, zur hässlichsten Straße Berlins gekürt zu werden.

Meine Ellbogen kleben an der roten Wachstuchtischdecke. Ein Baby heult wie ein Feuerwehrauto. Der Bademeister lässt im Vorbeigehen seine Hinterbacken spielen, muskulös wie Rumpsteaks, und seine Badelatschen klatschen schallend auf die Fliesen. „Komm, Marvin, komm schon!“ Die Mutter, die da ihren Kleinen anfeuert, wähnt sich offenbar in Hoppegarten.

„Jedes dritte Kind und jeder vierte Erwachsene in Deutschland können nicht schwimmen“, doziert der einzige Mann in unserem Harem. Wir sind dankbar, dass er unserem wöchentlichen Rendezvous den Anstrich einer humanitären Mission verleiht. „2003 sind 644 Menschen ertrunken“, fügt unser Pascha hinzu, während seine Lippen in der Schaumkrone eines Schultheiss versinken. „Wie süß!“, kreischt eine Großmutter, die Nase an die Fensterscheibe gedrückt. Einer nach dem anderen hüpfen die Kleinen ins Becken. Und alle haben wir Tränen in den Augenwinkeln.

Die Speisekarte ist eine Ode an die Berliner Gastronomie. Zwischen Wienern mit Kartoffelsalat, Currybouletten mit Brötchen und Backkartoffeln mit Quarkcreme lauern bedrohliche Kreaturen: „stramme Maxe“, giftgrünglibbrige Schlangen in Plastikgläsern, mit bitterem Puder gefüllte Weltraumkapseln, die auf der Zunge explodieren. Ein Aushang listet mit entwaffnender Ehrlichkeit den Giftgehalt der angebotenen Speisen auf: „1 = mit Farbstoff, 2 = mit Konservierungsstoffen, 3 = mit Antioxydationsmittel, 4= mit Geschmacksverstärker.“ Ich schwöre, eine Flasche „lieblichen französischen Tafelwein“ zu entkorken, wenn der Kleine sein Seepferdchen macht.

Warum ist Berlins Hässlichkeit so anrührend? Warum freue ich mich jede Woche darauf, eine Stunde in diesem feuchten Brutkasten zu verbringen, der nach Chlor, Nikotin und Schweiß riecht? Hinter der Fensterscheibe watscheln die Kleinen mit violetten Lippen im Gänsemarsch Richtung Dusche. Es ist sechs Uhr. Ja, es hat wirklich was …

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