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Auch wenn das vielleicht etwas zu viel des Guten ist, ist Weihnachten dennoch die Zeit, in der der kitschige Schmuck hervorgekramt werden sollte.

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Sehnsucht nach Leichtigkeit: Weihnachten darf ruhig kitschig sein

Blinkende Lichtergirlanden, leuchtende Sterne, Tannenzweige voll bunter Kugel: Vieles am Fest ist oberflächliche Dekoration – doch oft wärmt gerade das unser Herz. An Weihnachten ist erlaubt, was sonst eigentlich verpönt ist: hemmungsloser Kitsch.

Die großen Boulevards haben sich in Kathedralen des Lichts verwandelt. An den Balkongeländern blinken Lichtergirlanden, in den Fenstern leuchten Sterne, und auf den Tannenzweigen glänzen Gold- und Silberkugeln. Es ist Weihnachten. Da haben auch Engel, Nikoläuse und geschnitzte Krippenfiguren Konjunktur. Das ganze Jahr über sind die kleinen Geschöpfe im großen Koffer auf dem Dachboden versteckt, jetzt bevölkern sie Fensterbänke, Regale und Wohnzimmertische. Und selbst so nüchterne Politiker wie Thomas de Maizière stellen sich Schwibbögen und Räuchermännchen ins Büro.

Denn einmal im Jahr dürfen alle im Opulenten und Stimmungsvollen schwelgen, sich berauschen an Samt und Seide und sich dem Niedlichen, Idyllischen hingeben. An Weihnachten ist erlaubt, was sonst eigentlich verpönt ist: hemmungsloser Kitsch.

Kitsch - das Instrument, um Menschen unmündig zu halten

Es ist nicht ganz klar, woher der Begriff „Kitsch“ stammt. Viel spricht dafür, dass er vor gut 100 Jahren in Münchner Künstlerkreisen aufkam. Er hatte von Anfang an einen negativen Beigeschmack. Er diente der Erhöhung der hehren Kunst und der Abwertung alles anderen. Die Kunst bringt das Wahre, Erhabene und Schöne zum Ausdruck, der Kitsch nur den schönen Schein. Das ist bis heute tief im kollektiven ästhetischen Bewusstsein verankert. Daran hat auch der Erfolg von Jeff Koons nichts geändert, der seine schrillen „Balloon Dogs“ in den großen Museen ausstellen darf.

Kunst ist was für Kenner, sie erschließt sich nicht dem ersten Blick, man muss sie analysieren und studieren. Wer sich ohne Ironie als Liebhaber von Kitsch zur erkennen gibt, gerät schnell in Verdacht, gefühlsduselig zu sein und intellektuell im bloß Angenehmen, Reizenden und Gemütlichen stecken geblieben zu sein. Der Schriftsteller Hermann Broch sah in der Liebe zum Kitsch vor 80 Jahren sogar eine moralische, anthropologische Kategorie. Der „Kitsch-Mensch“ liebe das Falsche, Verlogene, Verkommende und Billige, schrieb Broch. Er war für ihn ein „ethisch Verworfener“, ein „Verbrecher, der das radikal Böse will“.

Die Kritik kam nicht von ungefähr: Kitsch wurde benutzt, um Menschen unmündig zu halten, die Herrschaft über die Köpfe zu gewinnen und Macht zu verschleiern. Nazis und Kommunisten waren gut darin, mit monumentaler, schablonenhafter Dekorationskunst Diktatoren als liebende Landesväter darzustellen. Stalin wurde zum freundlich lächelnden Pfeifenraucher stilisiert. Dorfszenen mit Erntehelfern illustrierten eine Idylle, während Millionen Menschen verhungerten. In den Kirchen sollten sich die Gläubigen an den lieblichen Putten erfreuen und sich vor den Darstellungen der Hölle ordentlich gruseln. Dass sie nicht verstanden, was vorne am Altar gepredigt wurde, war Bischöfen und Priestern nur recht.

Kitsch will gefallen, ahmt nach und bleibt an der Oberfläche. Kitsch ist sentimental, affirmativ und tröstlich. Der Friede, den der Kitsch verkündet, ist ein falscher Friede. Das alles stimmt, und es ist verständlich, dass viele so etwas bekämpfen wollen.

Warum Kitsch dennoch so wichtig ist

Man kann das aber auch anders sehen. „In jedem von uns steckt ein Tropfen Kitsch, weil Kitsch der kürzeste Weg zur Versöhnung mit den Lebensumständen ist“, hat der Philosoph und Kunsttheoretiker Burghart Schmidt vor einigen Jahren geschrieben. Und genau deshalb ist Kitsch so wichtig.

Die leuchtenden Sterne, Goldkugeln und das Lametta, die Räuchermännchen und Schwibbögen sind oberflächliche Dekoration, doch sie bringen Licht in die dunklen Dezembertage und wärmen das Herz. Dahinter steht eine Sehnsucht, die ganz und gar nicht oberflächlich ist. Es ist die Sehnsucht nach Leichtigkeit, nach heiler Welt und Geborgenheit, nach Gemeinschaft und nach Heimat. Das sind existenzielle Bedürfnisse, die jeder hat, egal, ob er reich ist oder arm, erfolgreich oder gescheitert, alt oder jung. Um diese tieferen Schichten geht es an Weihnachten.

Im Alltag kommen diese Bedürfnisse oft zu kurz. Am Arbeitsplatz geht es um Loyalität, nicht um Heimat. Es zählen Vernunft und Argumente. Jeder soll funktionieren und möglichst geräuschlos seine Aufgaben erledigen. Aufwand und Ergebnis müssen sich rechnen, und belohnt wird, wer sich nichts vormachen lässt und Ziele durchsetzt. Versagensängste und Verlorenheitsgefühle behält man lieber für sich. Sehnsüchte stören da nur. Das Foto von den Kindern auf dem Schreibtisch ist genug des Sentimentalen.

Der stressige Alltag zwingt Mütter und Väter, auch zu Hause vor allem zu funktionieren und erst mal das Nächstliegende zu erledigen. Und auch in der Politik hat sich die Logik des Pragmatischen, Funktionalen und Technokratischen durchgesetzt. Die neue Koalition setzt auf Bewährtes. Im Koalitionsvertrag ist viel vom guten Leben die Rede, vom guten Arbeiten und guten Wohnen. Die Finanzen sollen „solide“ sein, die Politik „verlässlich“. Lust am Gestalten hört sich anders an. Die großen Hoffnungen bleiben in der Schublade. Viele Wähler erwarten wohl auch nichts anderes. Hat ein Politiker Charisma und Ideen und beschwört er womöglich Gefühle herauf, macht er sich in Deutschland verdächtig. Nur der Bundespräsident darf übers Nächstliegende hinaus denken und pathetisch werden. Aber auch nur an hohen Feiertagen. Ansonsten sind emphatische Bekenntnisse in der Öffentlichkeit tabu.

Weihnachten - die kollektive Auszeit aus der rationalistischen Kultur

Weihnachten ist die kollektive Auszeit aus der rationalistischen Kultur. Ein Schuss Überschwang, ein Schuss zu viel des sonst bloß Guten. Weihnachten ist jedes Jahr aufs Neue das große Versprechen, dass doch noch etwas anderes zählt als Vernunft und Pragmatismus. Dass große Gefühle im Spiel sind, dass der Wunsch nach Geborgenheit, Gemeinschaft und Zuspruch in Erfüllung geht, sei es auch nur für ein paar Tage. Weihnachten ist ein Ventil, um kollektiv Druck abzulassen und die Zumutungen und Kränkungen des Alltags zu vergessen. Drei Tage zum Auftanken, Wärmen und Trösten. Darin steckt eine große Kraft, sie verbindet alle und ist urdemokratisch. Je individualistischer die Gesellschaft ist, je unterschiedlicher die Neigungen, umso wichtiger für den Zusammenhalt sind solche verbindenden Erfahrungen. Und jedes Jahr wird das Fest noch größer und noch kitschiger. Keiner kann sich entziehen. Selbst muslimische Familien hängen Sterne ins Fenster und schmücken Weihnachtsbäume.

Zu Weihnachten gehört für viele der Kirchgang. Es ist schwer, an Heiligabend einen Platz in der Kirche zu finden, nie wird so viel gebetet und fromm gesungen. Gerade auch im entkirchlichten Osten sind dann die Kirchen voll. Das liegt paradoxerweise daran, dass Weihnachten längst über den kirchlichen Rahmen hinausgewachsen ist. Der Theologe Matthias Morgenroth hat untersucht, warum dieses Fest der säkularen Frömmigkeit so einmalig erfolgreich in der westlichen Welt ist: Es ist ein Fest des Drinnen, des Privaten, der Kindheit und der Familie, eingebettet in den Jahresrhythmus. Wenn es draußen dämmert, verwandelt sich das festlich geschmückte Wohnzimmer in eine „Privatkathedrale“, schreibt Morgenroth. Die Lichterketten an den Balkongeländern, die Herrnhuter Sterne und die beleuchteten Rentiere in den Vorgärten sind das, was den echten Kirchen Turm und Glocken sind.

Warum ausgerechnet Weihnachten zum Mega-Fest des Kitsches geworden ist

Dass ausgerechnet Weihnachten zu diesem Mega-Fest des Gefühls, des Rituals und des Kitsches geworden ist, hat mit der Geschichte von Vater, Mutter und Kind zu tun, die ihm zugrunde liegt, und mit der Art und Weise, wie sie erzählt ist. Denn auch schon Lukas, der Evangelist aus der Bibel, wusste, dass es Gefühle braucht, damit sich Menschen für etwas begeistern. Als er seine Version von Jesu Geburt aufschrieb, ging es ihm nicht um die Wahrheit und schon gar nicht um historische Exaktheit. Er wollte die Herzen der Leser gewinnen, er wollte sie anrühren und dazu bringen, die Sache der Christen zu unterstützen. So erfand er ein kitschiges Drama mit allen Zutaten, die es dafür braucht, mit Gegensätzen von arm und reich, gut und böse, Macht und Ohnmacht und einem vorläufigen Happy End.

Das hochschwangere Paare muss sich auf den beschwerlichen Weg machen, weil die böse Staatsmacht es so will. Die herzlosen Mitreisenden und Herbergsväter räumen keinen Platz frei, für die Geburt bleibt ihnen nur ein elender Ort: der dreckige Stall. Umso größer das Glück über das Kind, dem auch noch prophezeit wird, einmal ein mächtiger Herrscher zu sein. Wäre Jesus in einem Palast zur Welt gekommen, die Geschichte wäre nicht halb so eindrucksvoll. Der Evangelist Matthäus liefert nur die dürre Information, dass ein Kind geboren und auf den Namen Jesus getauft wurde. Erzählt aber wird auch 2000 Jahre später die Variante von Lukas.

In den Krippenspielen und in den geschnitzten Krippenmodellen ist die Täuschung perfekt. Maria und Josef sind schön zurecht gemacht, das pausbäckige Jesuskind liegt niedlich und friedlich da. Ochs und Esel sind süß wie die im Streichelzoo. Vom Dreck im Stall ist nichts zu sehen, nichts zu ahnen von Marias Hilflosigkeit, so alleine unter widrigen Umständen ein Kind zur Welt bringen zu müssen, nichts zu hören von den Schmerzen der Geburt. Das will auch keiner wissen. Viele kennen ja die schrecklichen Berichte von Frauen, die in Bombennächten Kinder geboren haben, und Bilder von Flüchtlingsfrauen mit ihren Babys. Doch an Heiligabend hat die Realität Pause.

So kann sich der Betrachter ganz auf die beschützende, liebevolle Haltung konzentrieren, mit der sich die gedrechselten Marias und Josefs über die Krippe beugen, auf ihre gekrümmten Rücken, das selige Lächeln auf ihren Gesichtern, die demütig gefalteten Hände. Natürlich ist das alles furchtbar kitschig. Aber wer möchte nicht dieses Kind sein, das so von seinen Eltern angeschaut wird?

Weihnachten ohne Rituale wäre wie Weihnachten ohne Kitsch

Diese Szene ist eine Urszene der Kindheit, eine Urszene der Geborgenheit und Heimat. Sie katapultiert jeden dorthin zurück, wo alles anfing. Diese Urszene wurde allen als Kind mitgegeben und vielleicht bleibt sie auch deshalb so sehr im Gedächtnis haften. Vieles verdrängt das Leben, viel Schönes, viel Unschönes, doch alle können sich daran erinnern, wie sie als Kind Weihnachten gefeiert haben. Und jedes Jahr an Heiligabend kommt die Sehnsucht zurück, noch einmal Kind zu sein, noch einmal unschuldig hoffen zu dürfen auf das Heil der Welt – selbst wenn rational betrachtet die Kindheit nicht so heil war. Die Feier der Geborgenheit im Privaten, des ewigen Kindseins, wurde zum zentralen Fest im bürgerlichen Zeitalter.

Bei keinem anderen Fest wird diese Sehnsucht nach der Kindheit und auch das Wissen um die eigenen Wurzeln so sehr an die nächste Generation weitergegeben wie an Weihnachten. Dafür gibt es in Familien Rituale. Dass man die Fotoalben aus dem Regal zieht und gemeinsam anschaut und die Älteren erzählen, wie es früher war. Oder dass man das Weihnachtslied singt, das schon die Urgroßmutter am liebsten mochte. Auch die Sache mit dem Essen ist so ein Ritual. Bei den einen kommen Heiligabend immer Würstchen und Kartoffelsalat auf den Tisch, bei denen anderen Fisch oder Pastetchen. Wichtig ist, dass es immer schon so war. Und dass es genau so auch bleibt.

Bis vor ein paar Jahren waren Rituale ähnlich verdächtig wie der Kitsch. Rituale seien oberflächlich, bloße Wiederholung, vorgetäuschte Emotion, hieß es. Nichts für rationale, fortschrittliche Geister. Ja, stimmt, Rituale erzeugen Gefühle. Das sollen sie auch. Rituale entlasten auch und stabilisieren. Das ganze Jahr über muss man kreativ sein. Da tut es gut, sich mal auf Eingeübtes verlassen zu können und sich nicht ständig neu erfinden zu müssen. Weihnachten ohne Rituale wäre wie Weihnachten ohne Kitsch: ein Widerspruch in sich. Rituale und Kitsch sind Geschwister. Rituale sind feststehende Verhaltensweisen, Kitsch entspricht einer ritualisierten Ausdrucksform. Man weiß, wie „das Englein“ auszusehen hat oder der Weihnachtsmann.

Kitsch erzeugt Harmonie. Niemand kann nur in Dissonanzen leben. Deshalb: Ja zu Kitsch und falschem Frieden, zur Harmonie auf Zeit. Gefühle sind nie weit vom Kitsch entfernt, wer das nicht wahrhaben will, droht sich selbst gefühllos zu machen. Und der Januar kommt schnell genug.

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