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Im öffentlichen Raum sind die Bürger immer häufiger im Blickfeld allgegenwärtiger Überwachungskameras.

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Selbstgewählte Observationskultur: Der Überwachungsstaat ist technisch keine Fiktion mehr

Im öffentlichen Raum sind die Bürger immer häufiger im Blickfeld allgegenwärtiger Kameras – im Namen von Transparenz und Sicherheit. Diese digitale Überwachungswelt hat jedoch eine dunkle Seite. Und ein Patentrezept gegen die Observationskultur gibt es nicht.

London macht es vor. Englische Polizisten werden künftig zu gläsernen Beamten – durch Kameras an ihrer Uniform. Das, meint Londons Bürgermeister Boris Johnson, wo es schon jetzt so viele Kameras gibt wie in keiner anderen europäischen Metropole, werde etwa rassistische Übergriffe verhindern. Wer sollte etwas dagegen haben? Die Kamera als Helfer. In Moskau wird sie von Taxifahrern genutzt, um Erpressungen durch korrupte Polizisten zu dokumentieren. Und in Syrien schaffen Internetfilme jene Öffentlichkeit, die Assad wie alle Diktatoren dieser Welt fürchten. Auch bei uns ist die Netzkamera immer häufiger dabei, vom Gerät im Skihelm oder im Auto bis zum Objektiv im Kinderzimmer.

Die Kehrseite beschäftigt uns weniger. Immer häufiger geraten wir in das Blickfeld der allgegenwärtigen Kameras, und hochauflösende Programme identifizieren in Stadien aus zehntausenden Köpfen jeden Fußballfan. Erst kam mit der NSA-Schnüffelei die Verunsicherung über die verlorene Integrität der digitalen Kommunikation. Nun könnten die Netcams der sanfte Einstieg in eine selbstgewählte Observationskultur sein – im Namen von Transparenz und Sicherheit.

Den Kameras kann niemand entkommen

Den sozialen Netzwerken setzt sich jeder selbst aus, den Kameras könnte bald niemand entkommen. Der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers beschreibt in seinem Buch „the circle“ die Selbstauslieferung an eine totale Netzexistenz und hat damit in den USA eine Debatte ausgelöst. Wie fern ist es der Realität, wenn in „the circle“ sich jeder verdächtig macht, der sich den Netzkameras verweigert, um einer altmodischen Privatheit wegen? Schon jetzt fallen auch hier Jobsuchende auf, wenn der Personalchef im Netz keine Einträge über den Bewerber findet. Jeder hat bereits einen Makel, wer keine digitale Spur hinterlässt.

Der Überwachungsstaat ist technisch keine Fiktion mehr. Missbrauch verhindern kann allein eine robuste demokratische Verfasstheit und stete Wachsamkeit. Nur ist der technische Fortschritt, von Google-Brille bis zum Internet der Dinge, schneller als die Politik. In der neuen Risikogesellschaft ist es nur ein Aspekt, ob deutsche Server und heimische Datenautobahnen gegen die NSA schützen. Die Frage, wie viel öffentliche Observation wir zulassen, wo wir Grenzen ziehen, und wie viel Privatsphäre wir verteidigen, wird neu gestellt. Auch wenn es Menschen begrüßen, wenn Kameras in der U-Bahn das subjektive Sicherheitsgefühl stärken: Eine umfassende Ausforschung können wir nicht akzeptieren.

Die dunkle Seite der Überwachungswelt

So wie die Atomkraft anfangs als Lösung aller Umweltprobleme galt, bevor sie später selbst zum Problem wurde, so scheint erst langsam die dunkle Seite einer digitalen Überwachungswelt auf, in die wir uns freiwillig begeben. Ein Patentrezept dagegen gibt es nicht. Die Gesellschaft kann nur Lösungsschritte für einen verantwortbaren Umgang formulieren und Grenzen der digitalen Sichtbarkeit und Verfügbarkeit ziehen. Das fängt damit an, dass Unternehmen wie Volkswagen den Vorgesetzten untersagen, Mitarbeiter nach Feierabend zu kontaktieren. Häuserfronten muss Googlemaps verpixeln, die Menschen aber hinterlassen als Beifang der Kameras überall ihre digitale Spur. Noch hat niemand gefordert, auch Berliner Polizisten mit Netzkameras auszurüsten. Die Youtube-Welt aber schert sich nicht um informationelle Selbstbestimmung und das Recht am eigenen Bild. Das müssen wir selbst tun.

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