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Die Politik streitet um die Sicherungsverwahrung.

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Sicherungsverwahrung: Opfer, Täter und das Recht

Keine Strafe ohne Schuld: Freiheitliche Gesellschaften ertragen es eher, einen Mörder laufen zu lassen, als einen Unschuldigen hinter Gitter zu bringen. Aber was ist mit dem Kinderschänder, den notorischen Vergewaltigern? Ein Kommentar.

Gewalt- und Sexualverbrechen an Kindern lösen kollektive Schmerzen aus. Kinder schützen zu wollen, ist uns eingepflanzt, viel tiefer als das Wissen, dass nicht jedes Unheil abgewendet werden kann. Umso stärker ist unser Bedürfnis, das Vermeidbare zu verhindern. Dieser legitime Wunsch ist ein Hintergrund der Debatte um die siebzig bis achtzig Straftäter, die nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs jetzt aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden müssen.

Sicherungsverwahrung ist Freiheitsentzug. Die Europäische Menschenrechtskonvention, das Grundgesetz, jede demokratische Gesellschaft knüpfen den Entzug der persönlichen Freiheit an strenge Bedingungen. Dass in Deutschland diese Bedingungen verletzt worden sind, ist der andere Hintergrund der Debatte. Weil Schutzbedürfnis und Freiheitsgarantie selten auf eine glatte Gleichung zu bringen sind und erst recht, wenn es um sexualpathologische und Gewaltverbrecher geht, muss der Ernst dieses zweiten Hintergrunds sehr deutlich ausgesprochen werden. Das Straßburger Urteil hat die Entfristung der nachträglichen Sicherungsverwahrung und ihren Vollzug im Gefängnis – also die nachträgliche Fortsetzung der gerichtlich verhängten Strafe ohne neue Straftat – zu Recht beanstandet. Das Gericht wird vermutlich die nachträgliche Sicherungsverwahrung insgesamt rügen, und auch das zu Recht. Dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, zählt zu den höchsten Gütern von Rechtsstaaten. Freiheitliche Gesellschaften können es eher ertragen, einen Mörder laufen zu lassen, als einen Unschuldigen hinter Gitter zu bringen.

Aber was ist mit dem Kinderschänder, den notorischen Vergewaltigern, von denen dauerhafte Gefahr für die Schwachen, für Kinder, für junge Frauen ausgeht? Es gibt genug Beispiele dafür, dass wieder ein Kind Opfer eines aktenkundig rückfallgefährdeten Gewalttäters geworden ist. Das Schutzbedürfnis, das den einen Hintergrund der Debatte ausmacht, erledigt sich mit dem Verweis auf ein hohes Rechtsgut offensichtlich nicht.

Wenn solche Werte in Konflikt geraten, schlägt die Stunde der abwägenden Vernunft, des Common Sense der demokratischen Öffentlichkeit. Und dann muss man erstens sagen, dass das Straßburger Urteil sich keineswegs gegen einen dauerhaften Freiheitsentzug gemeingefährlicher Sexualverbrecher und Gewalttäter richtet. Es bietet, im Gegenteil, die Chance, dass Deutschland es sich zukünftig damit weniger bequem macht als mit der ausufernden Anwendung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung kurz vor der Haftentlassung. Bei therapieverweigernden und -resistenten Gewalt- und Sexualtätern kann eine schon im Gerichtsurteil vorgesehene Option der Sicherungsverwahrung angewandt werden. Es wäre, zweitens, zu sagen, dass es sich bei den jetzt zu Entlassenden nicht durchweg um Gewalttäter handelt, ja, dass es einen latenten Missbrauch der Sicherungsverwahrung gegeben hat. Drittens freilich auch, dass die Entlassungen ein Risiko darstellen, das die Fußfessel allenfalls begrenzen kann.

Viertens aber, und das ist das Schwierigste, müssen wir uns eingestehen, dass im Wunsch nach Wegsperren von Gewalttätern auch ein Verdrängungsbedürfnis steckt. Wahr ist ja leider auch, dass manchmal erst das Gefängnis den jungen Delinquenten in einen Gewaltverbrecher verwandelt. Und keine Bestrafung überführter Täter verhindert, dass wieder ein gequältes, missbrauchtes Kind zum erwachsenen Sexualverbrecher wird.

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