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Sittengesetz: Unsere lieben Tabus

Der Arzt als Suizidhelfer: Ist die Selbstbestimmung das höchste aller Güter?

Ein junger Mann will sich umbringen. Er ist unsterblich in eine ihm unerreichbare Frau verliebt. Der Kummer frisst ihn auf. Er schläft nicht mehr, nimmt kaum noch Nahrung zu sich, die seelische Qual ist längst auch eine körperliche. Es gibt solche Fälle – und zwar nicht erst seit Goethes „Werther“. In den meisten Fällen kommt es zu einem gütlichen Ende. Zum Glück, wie die Allgemeinheit konstatiert.

Was aber spricht gegen die Selbsttötung aus Liebesleid? Im neuesten „Spiegel“ fordert der renommierte Rechtsprofessor Jochen Taupitz, ein Mitglied des Deutschen Ethikrats, dass Ärzte das Selbstbestimmungsrecht von Menschen voll und ganz akzeptieren und selbst zu Suizidhelfern werden sollten. Über die Standesrichtlinien, die das als unethisch verurteilen, könne sich jeder Mediziner problemlos hinwegsetzen. Zwar müsse der Suizident seine Entscheidung „freiverantwortlich“ getroffen haben, aber: „Es gibt keinen Zwang zum Leben. Und es kann ihn erst recht nicht geben, um zu verhindern, dass einige aus falschen Motiven aus dem Leben scheiden. Im Übrigen: Wer bestimmt, was falsche Motive sind?“

Die Position von Taupitz hat den Vorteil, glasklar zu sein. Er ringt nicht umständlich mit seinem Gewissen oder beschränkt das Selbstbestimmungsrecht auf bestimmte Personen, wie etwa unheilbar Kranke. „Um es drastisch zu formulieren: Selbstbestimmung bedeutet, dass man auch unvernünftige Entscheidungen treffen kann.“ Der liebeskranke junge Mann hätte demnach einen ebenso guten Grund, aus dem Leben zu scheiden, wie der todkranke Greis, der nicht künstlich ernährt werden möchte. Hier einen fundamentalen Unterschied zu machen, wäre in der Tat Willkür. Die Ausübung eines Selbstbestimmungsrechts darf weder an situative (Alter, Krankheit) noch subjektive (Intensität des Leidens) Faktoren gebunden sein. Sonst wäre es kein Recht.

Insofern verdeutlicht die Position von Taupitz, was grundsätzlich mit der Verabsolutierung des Selbstbestimmungsrechts nicht stimmt. Jede Gemeinschaft lebt davon, dass der freien Entfaltung der Persönlichkeit Grenzen gesetzt werden – auch durch das, was man gemeinhin das Sittengesetz nennt. Das wiederum lässt sich nicht allein durch Ratio und Zweckmäßigkeit begründen, sondern ist eine Art moralische Setzung, die aus einer geistesgeschichtlichen Tradition resultiert. Wer solche Setzungen ablehnt und die Selbstbestimmung des Menschen als dessen höchstes Gut betrachtet, müsste konsequenterweise auch für eine Aufhebung des Vielehe- und Inzestverbots plädieren und dürfte den öffentlich vollzogenen Kopulationsakt ebenso wenig verwerflich finden wie eben den Suizid.

Wer das Selbstbestimmungsrecht nur einschränken will, wenn dessen Ausübung in das Selbstbestimmungsrecht anderer Menschen eingreift, will das allgemeine Sittengesetz abschaffen. Alle anderen brauchen sich für ihre Tabus nicht zu schämen.

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