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Meinung: Sollten Jugendliche und Ausbilder mehr Leistungsbereitschaft zeigen?

„Wir brauchen eine stärkere Leistungsmentaliät“ vom 4. Dezember Unsere neue Wirtschaftssenatorin, Frau Sybille von Obernitz, fordert eine stärkere schulische Leistungsmentalität.

„Wir brauchen eine stärkere Leistungsmentaliät“ vom 4. Dezember

Unsere neue Wirtschaftssenatorin, Frau Sybille von Obernitz, fordert eine stärkere schulische Leistungsmentalität. Damit ist ein Schuldiger bereits gefunden: Die Schule. Die Bildungsexpertin weiß mit Sicherheit, dass die Berufsschulen in Berlin ihre Arbeit an den praktischen Bedürfnissen der Betriebe bedingungslos ausrichten. So ist es nicht verwunderlich, dass tausende Auszubildende in der Gastronomie bestens als billige und vollwertige Arbeitskräfte ausgenutzt werden können. Auch hier gilt: Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Anstelle populistisch angebliche Schuldige ausfindig zu machen, sollte Frau von Obernitz sich mit der neuen Schulsenatorin zusammensetzen. Während Hamburg seit 40 Jahren den zweiten Berufsschultag für Köche-Auszubildende praktiziert, quält sich Berlin auf einem unteren Standard herum. Selbst der Flächenstaat Bayern ist weiter: Köche-Auszubildende sollen nicht nur „gutes“ Essen herstellen können, sondern schon bei der Auswahl der Rohstoffe Verantwortung für die Gesundheit der Gäste übernehmen können. „Wer sich zur Decke streckt, kommt damit auch weiter.“ Zynismus ist ein schlechter Ratgeber. Was nutzt einer jungen Frau (in der Regel mit Abitur) der Abschluss als Fachkraft „Hotelfachfrau“ mit 1,0, wenn sie in diesem Beruf keinen Arbeitsplatz findet? Warum? Es werden aus Kostengründen nur neue Auszubildende eingestellt. Was nutzt einem ausgelernten Koch die Ausbildung, wenn er nicht gelernt hat, ein kleines Lokal zu führen? Bei einem zweiten Berufsschultag wie in Hamburg würde ihm das nicht so schnell passieren. Wenn sich ein 30-Jähriger durch Unwissenheit so stark verschuldet, dass er sich auf seinen Schulden zur Decke strecken kann, dann muss Frau Wirtschaftssenatorin etwas tun!

Anton Kulmus, Berlin-Reinickendorf

Sehr geehrter Herr Kulmus,

Sie werfen Frau von Obernitz Zynismus und die Suche nach Schuldigen vor, den sie wohl in der Schule gefunden habe. Über die Mängel in der Ausbildungs- und Arbeitssituation im Hotelgewerbe wird man streiten können. Doch gibt es in der Ausbildung wohl seit Jahren mehr als nur einen Berufsschultag, und laut IHK Berlin wird auch im Hotelgewerbe in Berlin eher über Fachkräftemangel geklagt. Ihre Antwort dokumentiert aber eine beliebte Berliner Sitte, nämlich auf schlechte Rahmenbedingungen zu verweisen, die es nicht lohnenswert erscheinen lassen, dass man sich anstrengt. Eine Hilfestellung für Jugendliche ist das nicht und keine gute Vorbereitung, sich mit Herausforderungen im Leben aktiv auseinander zu setzen. Hier fordert sie zu Recht einen Mentalitätswandel.

Die bildungspolitische Diskussion in Berlin wird gerne getragen von der Forderung nach mehr Geld und mehr Lehrkräften – der Wahlkampf war voll davon. Berlin gibt im Vergleich zu anderen Bundesländern viel Geld aus und liegt auch bei der Ausstattung mit Lehrkräften pro Schüler an der Spitze. Dies hat große Verbände in ihren Forderungen aber nicht irritiert. Auch hier werden mit Vorliebe die Rahmenbedingungen oder andere verantwortlich gemacht, anstatt Verantwortung für die Qualität der eigenen Arbeit zu übernehmen. Rahmenbedingungen sind wichtig und müssen eingefordert werden, dürfen aber nicht die eigene Verantwortlichkeit ersetzen. Und da liegt der Hase im Pfeffer. „Schad' meiner Mutter gar nichts, wenn mir die Hände abfrieren, was zieht sie mir keine Handschuhe an!“, charakterisiert diese Haltung treffend. Auf die Frage, was in ihrer Kita noch besser werden sollte antwortete eine schwedische Leiterin: „Wir müssen noch besser werden.“ In kanadischen und finnischen Schulen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Schule die Verantwortung für ihre Schule zuschreibt.Kürzlich wurde über zwei Neuköllner Sekundarschulen berichtet, an denen die Schulleiter morgens vor Acht Uhr die Schüler begrüßen. Zuspätkommer müssen sich im Sekretariat melden. Dieses Ritual hat mindestens an einer der beiden Schulen bereits zu einer erheblichen Reduzierung von Verspätungen geführt. In Bayern ist es nach wie vor üblich, dass Lehrkräfte morgens eine Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn in der Klasse sind und die Kinder empfangen. „Jeder Bäcker weiß doch, dass er vor dem Kunden im Laden zu sein hat“, lautet dazu die Begründung von Lehrerkollegen. Ein Schultag, der so anfängt, signalisiert einen anderen Umgang mit der Zeit, signalisiert auch, wie wichtig pünktliches Erscheinen ist.

Die Forderung nach Leistung und Anstrengungsbereitschaft ist nicht nur an Schulen und Jugendliche gerichtet, sondern auch an jene, die Jugendlichen eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz anbieten. Wenn mehr nach Potenzialen der Jugendlichen als nach ihrer Herkunft ausgesucht wird, könnte dies zu einer Chance gerade für benachteiligte Jugendliche werden. Hohe Leistungserwartungen, verbunden mit dem Zutrauen an Jugendliche, dass sie das schaffen können, würde ihnen mehr Zukunftsoptimismus mitgeben. Darauf haben sie ein Recht – und deshalb sollte die Frage nach Leistung und Anstrengung als Chance aufgegriffen und nicht als Bedrohung abgewehrt werden.

— Sybille Volkholz, Leiterin des Bürgernetzwerkes Bildung des VBKI, ehem. Berliner Senatorin für Schule, Berufsbildung und Sport

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