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Meinung: Spitzenpersonal nach Brüssel

Dem europäischen Parlament fehlt ein gemeinsames Verständnis für Anstand und Regeln

Mehr als die Hälfte der deutschen Abgeordneten im Europaparlament sei durch „problematisches Verhalten“ aufgefallen, sagt „Bild“. Die Abgeordneten hätten zu Unrecht Steuergelder „abgezockt“. Die für heute angekündigte Veröffentlichung der Namen soll über politische Karrieren entscheiden. Zu Unrecht beschuldigte Abgeordnete werden kaum eine Chance bekommen, die Vorwürfe mit gleicher Auflage richtig zu stellen. Berufsrisiko – könnte man sagen. Was Gerüchte und Enthüllungen angeht, ist das Europaparlament ein gefährliches Pflaster. Durch seine Internationalität genießt es nicht den Schutz, die dem Bundestag automatisch zugestanden wird. Und natürlich gibt es dort schwarze Schafe. Die soziale Kontrolle ist in der gesamten politischen Klasse wie unter den Abgeordneten relativ gering. Bei fünfzehn verschiedenen Herkunftsstaaten existieren keine wirklich verbindlichen Vorstellungen von Anstand und Seriosität. Das Spektrum der Wertvorstellungen ist ebenso groß wie das Maß an Toleranz, das jeder Abgeordnete für den anderen aufbringen muss. Das deutsche Modell von den Rechten und Pflichten des Parlamentariers gilt eben nicht in ganz Europa.

Insofern ist es glaubwürdig, wenn Abgeordnete sagen, dass sie nicht wissen, ob es ungerechtfertigte Eintragungen in Anwesenheitslisten gibt. Wenn ein fraktions- und parteiloser österreichischer Abgeordneter sich seit 2001 die Zeit genommen hat, die Listen zu prüfen, hat das auch damit zu tun, dass er politisch längst isoliert war. Deshalb ist er in seinen ursprünglichen Beruf, die journalistische Recherche, zurückgekehrt. Soll ein publizistischer Paukenschlag die gescheiterte politische Karriere abschließen und den Start ins neue Leben erleichtern? In der Sache ist dieser Paukenschlag trotzdem nicht begründet. Europaabgeordnete haben nicht nur dann Anspruch auf Tagegeld, wenn sie einer Sitzung des Europaparlamentes beiwohnen. Sie erhalten es auch, wenn sie Wahlkampf machen, Hintergrundgespräche mit Journalisten führen oder sich eine neue Strategie gegen konkurrierende Parteien ausdenken. Wenn sie sich Freitagmorgen eintragen, obwohl keine Plenumssitzung stattfindet, widerspricht das nicht den Regeln.

Natürlich entsteht so eine Grauzone. Natürlich gibt es in jedem Berufsstand Faule und Fleißige. Natürlich schicken die Parteien häufig nicht ihr Spitzenpersonal nach Brüssel. Doch muss man fragen, ob Stechuhren am Eingang des Europaparlaments der Würde des europäischen Hauses entsprächen und der Aufgabe der Abgeordneten gerecht würden. Eine vollständige Kontrolle über den gerechtfertigten Bezug der Tagegelder, die Hotelkosten und anderes decken sollen, ist ohne riesigen bürokratischen Aufwand kaum zu leisten. Tatsächlich notwendig ist das Abgeordnetenstatut, das in der vergangenen Legislaturperiode auch aufgrund von Kampagnen der Boulevardpresse zu Fall gebracht worden war. Leider sind die Chancen gering, in der nächsten Legislaturperiode niedrigere Sätze für die Einkommen und realitätsnahe Aufwandsentschädigungen der Abgeordneten zu beschließen.

Mariele Schulze Berndt

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