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Meinung: Starke Blutungen unter der Hirnhaut

Jessica, Dennis, Tim: In Deutschland werden Kinder gequält, manchmal bis zum Tod. Und was tun wir? Ein Erfahrungsbericht.

Alle paar Wochen in Deutschland wieder: Ein Kind wird tot aufgefunden. Verhungert, verkommen, erschlagen. Zuletzt traf es den kleinen Tim aus Elmshorn, er wurde „zwei Jahre, 5 Monate und 15 Tage alt“, hat der „Stern“ errechnet. Tim wurde vermutlich erschlagen vom Freund der Mutter, einem Bautischler, arbeitslos, 38 Jahre alt. Die Mutter ist 21, sie lebt von Hartz IV, das früher Sozialhilfe hieß. Gerichtsmediziner finden vier Schlagstellen am Schädel ihres Sohnes, „starke Blutungen unter der Hirnhaut“, „eine ausgeprägte Hirnschwellung“, blaue Flecken an Lippen, Kinn, Wangen. Andere Verletzungen scheinen älter. Tim ging’s schon länger nicht gut. Die Magazine und Zeitungen titeln: „Warum?“, „Wie konnte das geschehen?“ „Und alle haben es geahnt ...“, fortsetzen soll man sich die Zeile wohl: „... aber keiner hat was gesagt. Schämt euch!“

Alle paar Wochen wieder: Das Volk ergeht sich in Betroffenheitstränen, Kopfschütteln, Mahnwachen, Gedenkgottesdiensten, vielleicht schämt sich sogar hier und da einer, ein bisschen, aber alles in allem versteht es doch jeder von uns, sich in die zweifelhafte Gewissheit zu retten: „Ich hätte es besser gemacht!“ In jeder Rolle dieses alle paar Wochen neu aufgeführten Stückes wären wir die bessere Besetzung gewesen: die bessere Mutter, die aufmerksameren Nachbarn, der verantwortungsbewusstere Jugendamtmann, der kritischere Polizist. Und wenn morgen das Nachbarskind tot aufgefunden wird, mit zerschlagenem Schädel und Blutungen unter der Haut, die weit älteren Datums sind als von nur einmal und gerade eben, dann, ja, was dann?

Ich zum Beispiel. Ich lebe in keinem „sozialen Brennpunkt“, weder in Hamburg-Jenfeld noch in Berlin-Neukölln, ich bewohne keinen Plattenbau, sechzehn Stockwerke hoch, in dem „wegen der Anonymität der Bewohner“ jede „soziale Kontrolle“ versagt. Ich wohne in einem Dorf im nördlichsten Norddeutschland, vier Straßen, hochgerechnet, 100 Einwohner, maximal, vorwiegend Arbeiter, Krankenschwestern, ganz „normale Leute“. Die „soziale Kontrolle“, was immer die, die den Begriff so gern verwenden, darunter verstehen wollen, die „soziale Kontrolle“ hier ist extrem hoch: Ist der Rasen gemäht oder nicht, sind die Fenster geputzt oder nicht, ist das neue Auto des Nachbarn groß oder nicht. Das ist von Interesse, das wird kontrolliert, darüber wird gesprochen. Auch über anderes.

Dass die einen Nachbarn ihre Kinder so häufig anbrüllen beispielsweise. Dass man auf das Brüllen jeweils lautes Kinderweinen hört, gar nicht so selten auch grelle Schreie, als befinde sich ein Kind in höchster Not. Und dass manches Mal eines von ihnen laut weinend auf der Straße steht, mit rot geschlagener Wange. Auch, dass diese Kinder selbst sich schon hauptsächlich tretend, schlagend und Obszönitäten brüllend durch ihre kleine Welt bewegen, ist Thema. Nur eben redet man davon nicht gegenüber den brüllenden, schlagenden Nachbarn. Man diskutiert es mit anderen Nachbarn. Solchen, von denen man Zustimmung erwarten darf. Und nicht Gebrüll, was einem überhaupt einfällt und dass man sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern soll.

Wer macht das schon? Sich den nächsten sicheren Arschtritt abholen? Die Nachbarn von Tim, die sich einmal eingemischt haben, als das Kind nachts um elf im Regen im Garten stand, und die dafür nichts als das Gebrüll der Mutter kassierten, die haben sich auch gesagt: „Einmal. Und nie wieder.“

Da hinüberzugehen und mit denen reden, wie soll das gehen? Was soll man sagen? In welchem Tonfall? Streng? Pädagogisch? Freundlich bemüht? Wie könnte man erreichen, was man erreichen will: Dass die Kinder da drüben sich weniger oft in höchster Not befinden? Ich weiß es nicht. Die anderen Nachbarn, nehme ich an, diejenigen, die miteinander darüber reden, wissen es nicht. Und die Kindergärtnerin, die seit Jahren verfolgt, wie aggressiv und aggressiver die Kinder da drüben sind, weiß es auch nicht. Was wir wissen, ist dies: Die Familie da drüben, die sind – anders als wir – schon seit Generationen im Dorf. Sie haben mit das schönste Haus, den adrettesten Vorgarten, das größte Auto, einen festen Bekanntenkreis, eine sichere Arbeit. Sie sind eine ganz normale, deutsche Familie. Deutscher, „normaler“ als die meisten von uns, die darüber reden.

Ich zum Beispiel, wenn ich da rüberginge, um mit ihnen darüber zu reden, und denen kröche die Wut ins Gesicht und sie brüllten mich an, was mir einfiele, was ich glaube, wer ich sei, und dass ich mich gefälligst um meinen eigenen Kram scheren soll, dann kann ich nicht ausschließen, dass ich mich unter dem Gebrüll und der Sorge, es könne berechtigt sein, ducke und aus ihrem perfekten Vorgarten schleiche, zurück auf meinen ungemähten Rasen. In mein unaufgeräumtes Haus. Und mein unaufgeräumtes Leben. Mit vier Kindern. Ohne Mann. In unserer Gesellschaft in unserem Dorf sind die Rollen rigide verteilt.

Gegen sie anzuleben, bringt meistens nicht mehr als den nächsten Arschtritt, glauben Sie mir, ich habe genügend kassiert. Weil das so ist, habe ich gezögert, diesen Text zu schreiben. Ehrlich gesagt. Ich lebe in einem sehr kleinen Dorf. Und vielleicht liest einer meiner Nachbarn den Tagesspiegel. Es sind schließlich ganz normale Leute. Das haben sie auch der Kindergärtnerin gesagt, als die ihnen eine Familientherapie empfahl: „Bitte?! Wir brauchen doch keine Therapie! Da gibt es ganz andere, die eine Therapie viel nötiger haben!“ Was konnte die Kindergärtnerin darauf sagen? Dass die, die eine Therapie noch viel nötiger haben, auch nicht hingehen?

Ein Mitschüler meiner Tochter kommt des Öfteren mit einem blauen Auge zur Schule. Oder in der Umkleidekabine, beim Sport, sehen die anderen Jungen, dass sein Rücken blau, grün und gelb ist. Sie sprechen ihn nicht darauf an. Sie reden mit den anderen Schülern darüber. Auch mit der Lehrerin. Und die Lehrerin sieht sein blaues Auge. Dann nimmt sie den Jungen beiseite und fragt: „Was ist passiert?“ Und der Junge sagt: „Ich bin gegen eine Tür gelaufen.“ Oder: „Ich bin die Treppe runtergefallen.“ Auch Tims Mutter hat dem von ihr getrennt lebenden Vater Tims blaue Flecken so erklärt: „Er ist die Treppe runtergefallen.“ Der Vater hat ihr offenbar nicht geglaubt. Er erzählt, er habe den Sohn damals einer Nachbarin, Krankenschwester, vorgeführt, die sei sicher gewesen: „Die Flecken rühren nicht von einem Sturz.“ Tims Vater erzählt es erst jetzt. Hätte er es damals dem Jugendamt oder sonst wem gemeldet – wäre sein Sohn noch am Leben? Zweifelhaft.

Die Lehrerin hat dem Jugendamt das blaue Auge und den blaugrüngelben Rücken ihres Schülers gemeldet. Sie hat auch gesagt, dass sie nicht an den Türstoß, an den Treppensturz glaubt. Und der Mann auf dem Jugendamt hat gesagt: „Wenn der Junge nicht redet, können wir leider nichts machen.“ Bekannt ist, dass der Vater seine Frau schon mehrfach ins Krankenhaus und ins Frauenhaus geprügelt hat. Bekannt ist, dass die Frau ihre Kinder einmal bei einer Nachbarin abgegeben hat, weil der Vater gedroht habe, „uns alle umzubringen“. Der Vater wurde bereits für nicht zurechnungsfähig erklärt, Paragraf 152, auf dem Dorf heißt das: „Der hat den Jagdschein.“ Aber solange sein Sohn weiter behauptet, er laufe gegen Türen oder falle die Treppen hinunter, erklärt sich das Jugendamt machtlos. Sind wir machtlos? Oder nur mittellos?

Eine Freund von mir, Lehrer, hat in seiner Grundschulklasse einen Schüler, der oft dermaßen verdreckt ist, dass er ihn vor jedem Schwimmunterricht unter der Dusche eine halbe Stunde lang mit Seife und Bürste abschruppt. Das Kind leidet an Ekzemen und an einem seit Jahren unbehandelten Leistenbruch. Der Freund sagt: „Der geht mittlerweile wie Django.“ Er hat die Eltern mehrfach gemahnt, ihr Kind operieren zu lassen. Die Eltern sehen keine Notwendigkeit. Sie haben noch 13 Kinder. Mein Lehrerfreund rief beim Jugendamt an und sagt: „Hier verwahrlost ein Kind. Und seinen 13 Geschwistern geht es gewiss nicht besser.“ Der Jugendamtmann machte sich Notizen, der Lehrer hörte nicht wieder von ihm. Als er ihn Wochen darauf noch einmal anrief, um zu fragen: „Und?“, sagte der Jugendamtmensch: „Tja, ist genauso, wie Sie gesagt haben. Schlimm.“ „Und?“, fragte der Lehrer noch einmal. „Was werden Sie unternehmen?“ Da schnappte der Jugendamtmann zurück: „Was erwarten Sie denn, was ich unternehmen soll? Die alle da rausholen? 14 Kinder? Und wo dann mit denen hin? Ins Heim? Dafür hat der Kreis kein Geld.“

Das Kind leidet an Ekzemen. Es geht wie Django. Mein Freund ruft deshalb nirgends mehr an. Djangos Vater war nicht glücklich, als er hörte, dass der Lehrer ihm den Jugendamtmann ins Haus geschickt hat. Wir sind alle nicht darauf konditioniert, uns den nächsten nutzlosen Arschtritt abzuholen. Wir Nachbarn, die wir nicht wissen, wie wir darüber mit denen reden sollten, scherzen uns über unsere Hilflosigkeit hinweg.

Neulich hörte ich jenen Nachbarn in seinem Garten infernalisch brüllen: „Jetzt heb endlich deine ver-damm-ten Füße hoch!“ Ich dachte, er spräche mit seinem Pferd. Dann sah ich das Pferd friedlich grasen auf seinem Weidestück. Die andere Nachbarin, der ich das erzählte, lachte: „So würde der mit seinen Pferden niemals umgehen. So redet der nur mit seinen Kindern.“ Kürzlich kam ich mit meinem Sohn nach Hause. Als wir dem Auto entstiegen, hörten wir erst den Nachbarn brüllen, dann seinen Sohn schreien, dann sprang eine Kreissäge an. Mein Sohn, neun Jahre alt, sagte mit tonloser Stimme und unbewegtem Gesicht: „Jetzt sägt er ihn in Stücke.“ Ein Witz.

Wer will schon für möglich halten, dass sein Nachbar eines Tages sein Kind umbringt? Wer wollte für sich das Recht beanspruchen, das jemandem zu unterstellen? Und aus welchem Grund? Weil der Nachbar „mal ein bisschen brüllt“? Oder ihm ab und an „die Hand ausrutscht“? Wir lullen uns alle ein in den Glauben: „So schlimm ist es ja sicher nicht.“ Tims Vater wird das getan haben, als er die blauen Flecke auf seinem Sohn sah. Und ich nehme an, der Jugendamtmann tut es auch. Bei jeder Meldung, mit der man ihn plagt. Jeden Tag.

Da draußen sind so viele verwahrloste und geschlagene Kinder. Die, die an ihren Misshandlung sterben, sind nur die Spitze des Eisbergs. Wer wollte für den Schutz all der Misshandelten zahlen? An wen sollte der Mann auf dem Jugendamt all die Meldungen weiterleiten? „Der Kreis hat kein Geld.“ Und dieser Kreis hier wird nicht der einzige deutschlandweit sein. Da ist so viel, das uns hindert, der aufmerksamere Nachbar, der verantwortungsbewusstere Jugendamtmann, der bessere Mensch zu sein.

Auf einem Friedhof in Bremen wurde am vergangenen Mittwoch eine Plastiktüte mit Leichenteilen eines Kleinkinds gefunden. Alle paar Wochen wieder.

Antje Joel

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