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Feiern als gäbe es kein Morgen mehr. Ein illegaler Rave in der Hasenheide.

© picture alliance/dpa

Steigende Corona-Zahlen in Berlin: Zusammenhalt wird uns schneller durch die Krise bringen als Egoismus

Immer mehr Junge infizieren sich mit dem Coronavirus und finden das nicht schlimm. Dabei gefährden sie Freiheit und Leben vieler anderer. Ein Kommentar.

Seit ein paar Tagen habe ich mit einem guten Freund - nennen wir ihn mal Paul - eine hitzige Diskussion. Paul ist Anfang 30, Akademiker, politisch engagiert, wohnt innerhalb des S-Bahnrings und möchte wieder ins Berghain. Nicht zur Kunstinstallation, sondern wie früher zum Feiern.

Er hat recherchiert, dass trotz steigender Corona-Zahlen in der Charité nur ein Dutzend Covid-Patienten auf der Intensivstation liegen – und die seit Monaten. Er hat auf der WHO-Seite Kurven der neuen Fälle neben die Toten gelegt – nur die erste steigt.

Paul, weit davon entfernt das Virus zu leugnen, bezweifelt deshalb die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, fürchtet um die wirtschaftlichen Existenzen in der Kulturbranche und geht jetzt ab und zu wieder feiern.

Wie er scheinen in Berlin aktuell viele zu denken. Und sie werden immer mehr zur Gefahr. Für Ältere und Vorerkrankte geht es um ihr Leben. Für die große Mehrheit, die sich pflichtbewusst an Regeln hält, um die fragile Freiheit. Einige aber halten sich nicht an Hygieneregeln, sie feiern illegale Partys, und sie stecken sich immer häufiger an. Infizierten sich zu Beginn der Pandemie Menschen aller Altersgruppen fast gleichmäßig, gibt es nun eine glockenförmige Grafik.

Menschen wie mein Freund Paul finden, entscheidend sei nicht die Zahl der Fälle, sondern die Zahl der Hospitierten und Toten. Das Argument stimmt, doch alle Experten und der gesunde Menschenverstand sagen: noch. Schon jetzt steigen in der vulnerablen Gruppe der über 60-Jährigen die Fallzahlen, erstmals seit langer Zeit gab es in der vergangenen Woche in Berlin zwei Ausbrüche in Pflegeheimen.

Je stärker wir aufeinander aufpassen, desto eher öffnet auch wieder das Berghain

Je mehr Fälle, desto mehr Arbeit für die Gesundheitsämter. Die müssen bei jedem neuen Fall schnell und gründlich sein. Doch offenbar geben inzwischen Infizierte bis zu 300 Kontaktpersonen an. Ein Wahnsinn bei der Kontaktnachverfolgung, die durch fahrlässige Gastronomen und Kunden noch erschwert wird.

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Was passiert, wenn man dem Virus das Feld überlässt, hat die Pandemie in Brasilien und den USA gezeigt. Wie bei der ersten Welle ist der Blick in unsere Nachbarländer ein Blick in die Zukunft. In Frankreich explodieren die Fallzahlen seit Wochen, seit Ende vergangener Woche häufen sich auch die Toten wieder.

Paul findet, es solle jeder selbst entscheiden, wie er sich schützt. Ich bezweifele, dass das alle Gruppen eigenständig können und möchte in so einer Gesellschaft nicht leben. Zu Beginn der Pandemie gab es einen Moment des Zusammenhalts. Nachbarn boten Einkaufshilfe an, Gabenzäune für Obdachlose entstanden, im Netz trendete der Hashtag „WirBleibenZuhause“. Das Ergebnis: Deutschland kam so gut durch die erste Welle, wie sonst fast kein Land. Daran glaube ich auch jetzt. Je stärker wir aufeinander aufpassen, desto eher öffnet auch wieder das Berghain – nicht nur als Kunstinstallation.

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