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Steuerabkommen: Warum die Schweiz zu den Schurkenstaaten gerechnet wird

Der Streit um die Steuer-CDs belastet die Beziehung zwischen Deutschland und der Schweiz. Dabei machen die Schweizer nur das, was sie schon immer gemacht haben.

Aus der Sicht der großen Mächte ist die Schweiz ein steuerpolitisches Ärgernis. Warum kann die Schweiz Kapital nicht so besteuern, wie es alle anderen großen Staaten tun? Warum muss sie einen Sonderweg gehen? Der schweizerische Eigensinn wird zwar jüngst auf Druck der Großen allmählich abgebaut. Aber noch wird die Schweiz als diesbezüglich „rückständig“ angesehen. Abweichende Regeln führen zu „unfairem“ Steuerwettbewerb, sagen verärgert die großen Fiskalstaaten. Zur Abstrafung drohte beispielsweise Frankreich der Schweiz die Staatlichkeit zu entziehen und sie zu einer nicht kooperativen Verwaltungseinheit, einem „territoire non-coopératif“, herunterzustufen.

Offenbar sind diese Kritiker weder historisch noch literarisch im Bilde. Sonst hätten sie erkannt, dass die Eidgenossen schon vor 721 Jahren ihre Unabhängigkeit durch den Steuerwiderstand erstritten haben. Durch drückende Steuern wollten sich nämlich die Österreicher die Bergler von Uri, Schwyz und Nidwalden gefügig machen und dadurch die Kontrolle über den Gotthardpass an sich ziehen. Doch Steuern bestanden damals nicht in Geldzahlungen – denn wer besaß schon Geld? –, sondern Sachwerten. Dazu erzählt Friedrich Schiller in seinem Drama „Wilhelm Tell“, wie der Bauer Arnold von Melchtal dem Knecht des österreichischen Landvogts die Finger brach, als dieser sich dazu anschickte, ihm zum Zwecke der Besteuerung die Ochsen vom Pflug abzuspannen, und wie sodann der Landvogt sich rächte, indem er Melchtals Vater blendete. In einem anderen Fall richtete sich das Auge des Steuervogtes auf das Eigenheim eines örtlichen Notablen, im dritten Fall verlangte der Vogt sogar die Liebesdienste der schönen Gattin des Steuerpflichtigen. Der rechtzeitig zurückgekehrte Ehemann erschlug den Vogt im Bade. So konnte es nicht weitergehen. Österreichs Autorität stand auf dem Spiel. Es sah sich gezwungen, militärisch einzugreifen. Doch sein Reiterheer wurde 1315 am Morgarten bei Zug in eine Falle gelockt, mit Felsbrocken beworfen und vernichtend geschlagen.

Nach weiteren Rückzugsgefechten gab Österreich auf. Die Eroberungs- und Beherrschungskosten der Eidgenossenschaft lagen weit über den erzielbaren Steuererträgen. Nunmehr nahmen einheimische Unternehmer das Geschäft des Alpentransits selbst in die Hand und erwirtschafteten dabei stattliche Vermögen. Der berühmteste unter ihnen ist Kaspar Jodok von Stockalper (1609-1691). Er erzielte aus dem nahen Simplonpass ein Vermögen von 2,2 Millionen Walliser Pfund, entsprechend 122 233 Kühen. Er galt als einer der reichsten Männer Europas.

200 Jahre später erweckte der schweizerische Reichtum die Begehrlichkeit der französischen Revolutionäre. Im Jahr 1798 griffen sie zu, eroberten die militärisch nachlässig gewordene Eidgenossenschaft und entführten die Berner und Zürcher Staatskasse nach Paris. Allein in Bern wurden über 24 Millionen Franken erbeutet. Die Last des Goldes war so schwer, dass das Fuhrwerk unterwegs zusammenbrach und ausgewechselt werden musste. Der schließlich in Paris angekommene Schatz wurde dazu verwendet, um Napoleons Feldzug nach Ägypten zu finanzieren. Das Geld wurde in wahrem Sinne verpulvert. Denn der Ägyptenfeldzug war ein völliger Fehlschlag.

Aus der Schweiz wollten die französischen Eroberer eine „Helvetische Republik“, das heißt einen zentralistischen Steuerstaat nach französischem Muster konstruieren. Auch das war ein Fiasko. Steuerzahlungen wurden schlicht boykottiert. Es entstand ein Chaos. Napoleon Bonaparte sah sich genötigt, der Schweiz eine neue, weniger zentralistische Verfassung, die „Mediationsverfassung“, zu verordnen. Die Abhängigkeit der Schweiz von Frankreich endete erst, als die alliierten Truppen nach der Völkerschlacht bei Leipzig Ende 1813 bei Basel den Rhein überschritten und Napoleon sich nach Frankreich zurückzog. Die Kantone verselbstständigten sich. Die Schweiz wäre fast zerfallen. Nur dem Interesse der Großmächte an einem neutralen Zwischenstaat ist es zu verdanken, dass die Schweiz im Wiener Kongress nicht aufgeteilt wurde, sondern als Staat erhalten blieb. Im neu gegründeten Schweizer Staatenbund gab es weder eine gemeinsame Steuer noch eine zwingende gemeinsame Gesetzgebung. Beschlossen wurde im Wesentlichen nur das, worüber man sich einig werden konnte. Das missfiel den progressiven, „freisinnigen“ Kräften. Sie verloren allmählich die Geduld und zwangen 1847 in einem kurzen Krieg die gegnerischen Konservativen unter das Mehrheitsprinzip im Bund.

Wie das Vertrauen zwischen Deutschland und der Schweiz verloren geht

Unter dem neuen Regime wurden die Binnenzölle abgeschafft, ein gemeinsamer Markt geschaffen, während die Steuern kantonal blieben und daher einen Steuerwettbewerb auslösten, auf den die Schweiz heute noch stolz ist.

Gegen Ende des Jahrhunderts wurde ergänzend die auf kantonaler Ebene schon bestehende direkte Demokratie auf Bundesangelegenheiten ausgedehnt. Erhöhte Verteidigungsanstrengungen erforderten 1915 die Einführung der direkten Bundeseinkommensteuer und 1941 der Umsatz- und späteren Mehrwertsteuer. Doch nach wie vor bleibt den Kantonen und den Gemeinden das Recht erhalten, eine Einkommen-, Körperschaft- und Vermögensteuer nach eigenen Sätzen bzw. Gemeindezuschlägen zu erheben und die Freibeträge festzusetzen.

Wie aber lassen sich die Vorwürfe erklären, die die großen Staaten und die OECD gegenüber der Besteuerung in der Schweiz erheben? Weshalb wird die Schweiz zu den Schurkenstaaten („États voyous“) gerechnet? Wie eben dargelegt wird in der Schweiz Realkapital durch die Kantone, das heißt faktisch nach dem Territorialprinzip „vor Ort“ besteuert. Zürich hat eine andere Körperschaftsteuer als Bern usw. Der daraus folgende Standortwettbewerb drückt die Steuersätze auf die durch die Unternehmen verursachten Infrastrukturkosten. Ergänzend wird auf das inländische Finanzkapital eine Quellensteuer erhoben, die im Endeffekt eine verlängerte Unternehmensbesteuerung darstellt. Ausländisches Finanzkapital bleibt unter dem Territorialprinzip steuerfrei, da es ja in der Schweiz keine Infrastrukturkosten verursacht, sondern es Sache des Sitzstaates ist, das Unternehmen für die dort verursachten Infrastrukturkosten vor Ort zu besteuern.

Das alles gab keinen Anlass zum Streit, solange auch die anderen Staaten nach dem Territorialprinzip besteuerten. Das änderte sich erst, als im Jahr 1919 Großbritannien und die Vereinigten Staaten das bisher allgemein gebräuchliche Territorialprinzip durch das Wohnortprinzip ersetzten. Das heißt, die beiden Staaten vereinbarten, in- und ausländische Kapitaleinkommen bei jedem Steuerpflichtigen zusammenzuzählen und diese mit dem anderen Einkommen der nationalen Einkommensteuer zu unterwerfen. Weil diese Steuer nicht mehr proportional, sondern progressiv gestaltet ist, steigt im Mittel der Gesamtsteuerertrag der Staaten an. Diese praktische Geldbeschaffungsmethode überzeugte auch Deutschland und viele andere Staaten. Jeder Staat konnte mitmachen, wenn er sich verpflichtete, den anderen Staaten die Kapitaleinkommen von dessen Bürgern zu melden. So entstand ein Steuerkartell, das den verharmlosenden Namen „OECD-Musterabkommen“ trägt.

Die Schweiz trat diesem Kartell nicht bei. Sie blieb bei der traditionellen Kantonalbesteuerung faktisch beim Territorialprinzip. Meldungen an fremde Fisken (etwa von jüdischen Kapitaleinkommen im „Dritten Reich“) hätten den schweizerischen Besteuerungsgrundsätzen diametral widersprochen. Das Bankgeheimnis war nicht ein Fremdkörper, sondern logische Folge des Territorialprinzips. Umgekehrt ist es nicht verwunderlich, dass sich ausländisches Kapital in der Schweiz sammelte, um der Besteuerung nach dem deutsch-britisch-amerikanischen Wohnsitzprinzip zu entgehen. Das war ein steuerliches Eigentor dieser Staaten. Schweizer können nicht verstehen, warum sie ihr System aufgeben sollen, nur weil andere Staaten zum Wohnortprinzip übergegangen sind, und sie wiederum dafür einstehen müssen, dass dieses nicht wasserdicht ist. Sie halten die Vorwürfe für ungerecht, fühlen sich von den einst befreundeten Staaten schlecht behandelt.

Auf diese Weise wird Vertrauenskapital zerstört. Zwischenstaatliche Beziehungen sind nicht ein Eintageswerk. Sie müssen langsam aufgebaut werden. Zwischen Deutschland und der Schweiz ist nach der Überwindung des Tiefpunkts von 1945 (schon vor der Gründung der Bundesrepublik) ein Neuanfang beschritten worden. Die Schweiz setzte sie sich treuhänderisch für die Erhaltung der deutschen Vermögen in der Schweiz ein, um diese vor dem Zugriff der alliierten Siegermächte so weit wie möglich zu schützen. Das war der Anfang. Dann folgte wechselweise eine Verbesserung nach der anderen, bis daraus ein enges Freundschaftsverhältnis erwuchs. Vertrauen schafft neues Vertrauen usw., bis Politiker kommen und glauben dieses Vertrauenskapital aus populistischen Gründen verfrühstücken zu müssen. Daraus können beide Länder nur verlieren. Da wäre es vielleicht ratsam, die Politiker würden diese Vorgehensweise noch einmal überdenken.

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