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Meinung: Stoibers Schwur

Von Tissy Bruns

Die Union hat sich lange geweigert, der Zuwanderungsrealität ins Auge zu sehen. Die CSU war in dieser Hinsicht noch etwas langsamer als die Schwesterpartei. Als es schließlich gar nicht mehr anders ging, war zur Überwindung der langlebigen Lebenslüge eine goldene Formel nötig, die vergangene Sichtweisen mit den neuen in Einklang brachte. Also verwandelte man den alten Stehsatz aus der Ära Kohl, wonach Deutschland kein Einwanderungsland sei, durch eine kleine Beigabe: Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland. Der Satz wahrt das Gesicht und hat außerdem den Vorteil, das er zutrifft. Ein Land der Einwanderer wie die USA, Kanada oder Australien ist Deutschland wirklich nicht. Schon deshalb ist es erstaunlich, dass CSUChef Edmund Stoiber auf ein Integrationsinstrument klassischer Einwanderungsländer zurückgreift. Sein Vorschlag, vor die Einbürgerung den Eid auf die Verfassung stellen, erinnert an die amerikanischen Rituale von Fahne und Schwur – eine Assoziation, die in Stoibers Absicht liegt. Ein kraftvolles, ein starkes Wort des bayerischen Ministerpräsidenten!

Wirklich? Es stimmt, schwören muss in Deutschland, wer Beamter, nicht wer Deutscher werden will. Aber ein Bekenntnis zu den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, das durch Unterschrift eigenhändig besiegelt werden muss, gibt es als Einbürgerungsvoraussetzung schon. Stoibers persönlicher Realitätsgewinn durch die goldene Formel hält sich offenbar in Grenzen. Wo früher die ganze Union die tatsächliche Einwanderung verdrängt hat, nimmt heute der CSU-Chef die Integrationswirklichkeit nur schemenhaft wahr. Zu der gehört erstens, dass schon jetzt niemand voraussetzungslos Deutscher werden kann und zweitens, dass die harten Probleme des Zusammenlebens verschiedener Kulturen nicht durch den Einsatz ideologischer Ersatzstoffe zu bewältigen sind. Integration verlangt nicht nur Sprachkurse, Kindergartenplätze, bessere Schulen und Ausbildungsangebote; sie braucht auch Symbolik, Überzeugung und Werte. Derzeit lautet der nüchterne Befund: Viele Migranten bilden ihre Identität nicht mit, sondern neben der Mehrheitsgesellschaft. Stoibers Vorschlag ist eine nutzlose Scheinlösung. Der Eid gibt keine Antwort auf die Frage, warum eine wachsende Zahl junger Migranten Stolz und Selbstachtung in Abgrenzung zu unseren Grundwerten herausbilden.

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