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Arschgeweih

© dpa

Tätowierungen: Körper als Schmuck

Berliner Strandbad, später Nachmittag: Getöse, viel Fleisch - und viel Zierat: Herze, Kreuze, Totenkopf, japanisch. Die Männer betonen die Schultern, die Frauen Hüfte und Po. Es ist, wie es ist: Der Trend zum Tattoo hält an.

Ein Berliner Strandbad am späten Nachmittag. Entblößte Menschen, Getöse, viel Fleisch. Und viel Zierrat: Herz, Kreuz, Totenkopf, polynesische Motive, japanischer Stil. Die Männer betonen den Schulterbereich, die Frauen eher Hüfte und Po. Für die Tätowierung auf dem Steiß kennen Umgangssprachler das Wort „Arschgeweih“. Es sei, wie es ist: Der Trend zur Tätowierung hält ungebrochen an. Immer mehr Menschen, immer größere Flächen. Laut Statistik sind fast 50 Prozent der Jugendlichen bis 24 Jahre tätowiert oder gepierct.

Das Tätowieren, motiviert auch durch den Wunsch nach Individualität, ist zu einer Massenkultur geworden. Es ist längst raus aus der Rocker-, Punk-, Breakdance- und Skinszene, Ghetto-Kids ahmen millionenschwere US-Basketballstars nach, der Kult hat Mittelschicht und kulturelle Intelligenz erfasst. Aus dem Körper, der äußeren Hülle des Leibes, wird Schmuck. Allerdings lehrt die Erfahrung rund um Berlin, dass die Tätowierlust in gewissen Milieus sich noch unbändiger austobt als in anderen. Dort, wo die Kinder vornehmlich Jason, Kevin und Jaqueline heißen, ihre Eltern Bodybuilding treiben und gern dunkelbraun gebrannt sind, ist der Tattoo-Quotient meist überdurchschnittlich hoch.

Wie es der Zufall will, feiern zwei klassische Schriften in diesem Jahr ihren hundertsten Geburtstag. Beide bringen das Unbehagen an der Körperbildnerei, das in unserer Zeit zu äußern so tabu geworden ist, wie es das Tätowieren früher war, auf den Begriff. „Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, sein Ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher“, schreibt Adolf Loos in seinem Essay „Ornament und Verbrechen“ (1908) und setzt mit einem kräftigen Aber fort: „Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es gibt Gefängnisse, in denen achtzig Prozent der Häftlinge Tätowierungen aufweisen. Die Tätowierten, die nicht in Haft sind, sind latente Verbrecher oder degenerierte Aristokraten. Wenn ein Tätowierter in Freiheit stirbt, so ist er eben einige Jahre, bevor er einen Mord verübt hat, gestorben.“ Denn „Ornamentlosigkeit ist ein Zeichen geistiger Kraft“.

Im selben Jahr veröffentlicht Georg Simmel die „Psychologie des Schmuckes“. Brillant analysiert er das egoistische und altruistische Moment im Sich-Schmücken, „man schmückt sich für sich und kann das nur, indem man sich für andere schmückt“. Aber Simmel ordnet jedweden Schmuck in eine Skala „je nach der Enge, mit der es der physischen Persönlichkeit verbunden ist“. Ganz unten: der enge Schmuck der Naturvölker – die Tätowierung. Ganz oben: der Metall- und Steinschmuck, an dessen Spitze der Diamant.

Wer sich heute tätowiert, will noch vom Reiz des schlechten Rufs zehren, dem Verbrecher- und Seemanns-Image, das sich lange Zeit damit verband. Doch in einem Volk, das bald nur noch aus tätowierten Pseudorebellen besteht, finden sich die wahren Exoten in diesen warmen Junitagen eher bei Adolf Loos und Georg Simmel wieder als in den Strandbädern.

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