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Arbeit ist notwendig, aber die Stunden im Büro oder in der Fabrik sind keine Religion.

© dpa

Tag der Arbeit: Ist ohne Arbeit alles nichts?

Arbeit ist wichtig, sagt die Tagesspiegel-Kolumnistin Ursula Weidenfeld. Doch genau so wichtig ist es, sich gegen die Überbewertung der Arbeit zu wehren.

Ein Deutscher kommt nach Irland und sieht einen Fischer, der am Hafen ins Meer guckt. Der Mann fragt den Einheimischen, was er da macht. Der Fischer sagt, dass er nur so aufs Meer schaut. Der Deutsche erklärt ihm, dass er besser mehr arbeiten würde, als vor sich hin zu starren. Der Fischer fragt, warum. Der Deutsche sagt, dass man sich etwas leisten kann, wenn man viel arbeitet und Geld verdient. Wohlstand, Autos, Ferien zum Beispiel. Zeit, die man genießen kann. In der man einfach einmal nichts tut. Der irische Fischer versteht den Deutschen nicht.

Wie kaum eine andere karikiert die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll, geschrieben zum 1. Mai 1963, das Bedürfnis der Deutschen, aus Arbeit mehr zu machen, als sie ist: Arbeit ist seit der Zeit des ersten deutschen Wirtschaftswunders in der deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht nur Broterwerb. Arbeit ist mehr. Sie selbst ist zum Lebenszweck und zur Lebenserfüllung geworden, zur Eintrittskarte in ein Leben voller Würde und Teilhabe.

So oder so ähnlich wird uns die große Geschichte von der Arbeit erzählt – an diesem 1. Mai vielleicht noch etwas eindringlicher als in den Jahren zuvor. Je verheißungsvoller der konjunkturelle Aufschwung wird, je mehr von fehlenden Facharbeitern die Rede ist, desto schillernder wird die Schilderung der Segnungen der Erwerbsarbeit. Jede Hausfrau, die nur zu Hause die Wohnung putzt, jeder Faulpelz, der lieber am Hafen herumlümmelt, jeder müde Arbeiter, der lieber mit 63 als mit 70 in Rente will, muss beeindruckt werden: Ohne Arbeit ist alles nichts.

Geschickt wird verdeckt, dass Arbeit in Wahrheit natürlich immer noch auf den traditionellen Gesetzen des Kapitalismus basiert: Gearbeitet wird immer nur dann, wenn es sich lohnt. Braucht der Kapitalist die Arbeitskraft, kauft er sie ein. Braucht er sie nicht mehr, entlässt er sie aus seinen Diensten. Nur Arbeit, die sich rechnet, ist richtige Arbeit. Der Arbeitnehmer braucht das Geld, um zu leben und um sich eine Pause leisten zu können. Umgekehrt aber ist die Arbeit, die die Hausfrau zu Hause verrichtet, keine echte. Ihr Wert ist nur geringfügig, denn sie wird ja nicht bezahlt. Das Doppelgesicht der modernen Arbeit zeigt sich hier am deutlichsten. Einerseits wird Arbeit aufgeladen mit übermateriellem Sinn, andererseits aber ist sie ohne die alten materiellen Tauschrelationen nicht lebensfähig. Diesen Widerspruch können weder die Propheten der neuen Arbeitswelt auflösen noch können es diejenigen, die eine Tätigkeitsgesellschaft fordern, in der jedem ein Grundeinkommen garantiert wird.

Andere Lebensbereiche verblassen dagegen notwendigerweise immer mehr: die Familie, die Freunde, das Hobby, der Verein, die Kirche. Diese Institutionen, denen man vormals die Zeit widmete, die nicht dem direkten Broterwerb diente, sind in sich zerbrechlich geworden. Erfüllung, Wohlstand, intellektuelle Herausforderung, die findet man dort nicht mehr zuverlässig. Die findet man am Arbeitsplatz.

Jeremy Rifkin nahm in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts an, dass den Industrienationen die Arbeit ausgehe. Das Gegenteil ist passiert. Die hohe Produktivität sorgt hier nicht dafür, dass den Arbeitenden mehr Zeit für sich zur Verfügung steht. Die Menschen brauchen mittelbar mehr Zeit für die Arbeit. Natürlich pendelt man für einen guten Job nur noch zum Wochenende nach Hause. Wer sich an unregelmäßige Arbeitszeiten gewöhnt hat, erscheint selbstverständlich nicht mehr regelmäßig zum Vereinsabend oder zu den Übungen der freiwilligen Feuerwehr. Freunde? Wenn die aber so wenig Verständnis dafür haben, dass man immer wieder absagen muss – dann sind sie es sicher nicht wert, Freunde genannt zu werden.

Indem die Arbeit ihre Bedeutung ausgeweitet hat, hat sich auch die Freizeit gewandelt. Die Zeit außerhalb der Arbeit hat entweder der Wiederherstellung der Arbeitskraft zu dienen oder ebenfalls der Selbstverwirklichung. Aus einer Zeit, in der jeder selbstverständlich seine privaten Pflichten – Familie, Sorge für die Angehörigen, Schrebergarten, Ehrenamt oder Steuererklärung – erfüllt hat, ist der Anspruch geworden, möglichst von allen anderen Pflichten befreit zu sein. Sogar das Arbeitszeitregime für Industriearbeiter, um das in den schwersten Arbeitskämpfen des Landes gerungen wurde, ist heute kaum mehr als eine lose Empfehlung. Wissensarbeiter haben oft überhaupt keinen zuverlässigen zeitlichen Rahmen mehr, in dem sie arbeiten. Ihre Arbeit ist zwischen Beruf und Hobby, Büro und Home-Office „flüssig geworden“, sagt der Zukunftsforscher Matthias Horx. Ist es noch Arbeit, was diese Menschen tun? Oder gehört es zur Identität des modernen Werktätigen?

Das Ende der Entfremdung?

Das klang in der Entfremdungstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts ganz anders. Hatten Karl Marx und Friedrich Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ noch festgestellt, dass „die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit“ dazu geführt hätten, dass die Arbeit des Proletariers „allen selbstständigen Charakter und damit allen Reiz verloren“ habe, so hat der technische Fortschritt im 20. Jahrhundert die umgekehrte Bedeutung bekommen. Weil er die Arbeit leichter, produktiver und damit wertvoller macht, hat er die Arbeit aufgewertet. Erzwang er in der Vergangenheit Arbeitsteilung, bis der Sinn der Arbeit nicht mehr zu erkennen war, so weist er in der Arbeitsteilung des 21. Jahrhunderts den Deutschen die Rolle der Teamarbeiter, Gemeinschaftserfinder, Netzwerkexperten zu. Selbst einfachste Berufe wie zum Beispiel der des Lagerarbeiters sind zu sinngeladenen Tätigkeiten geworden. Schoben früher kaum Gebildete die Ware ins Lager und holten sie wieder heraus, sind heute selbst hier Facharbeiter nötig. Viele von ihnen sprechen im Beruf nur noch englisch, bedienen aufwendige Logistikprogramme am Computer, ordern Nachschub, bereiten Ware auf.

Mag in anderen Ländern der Welt die Arbeit immer noch den Gesetzen des Manchester-Kapitalismus folgen, Deutschland ist darüber längst hinweg. Die globale Arbeitsteilung sorgt dafür, dass die einfachen, berechenbaren und billigen Tätigkeiten verschwinden oder, wie im Fall des Lagerarbeiters, aufgewertet werden. Oder sie werden von Arbeitsmigranten wahrgenommen – zum Beispiel denjenigen, die von diesem Sonntag an legal aus Osteuropa kommen können. Dafür nimmt unter denjenigen, die die einheimische Gesellschaft prägen, die Zahl derjenigen zu, die kreativ oder dispositiv tätig sind.

Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin und Kolumnistin des Tagesspiegels.
Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin und Kolumnistin des Tagesspiegels.

© Mike Wolff

In den Industrienationen hat der technische Fortschritt dem Menschen die Herrschaft über die Maschine zurückgegeben – und ihm dafür die Souveränität über die eigene Zeit genommen. Ob er in Ferien ist oder im Wochenende, ist egal: Die Fortschritte in der Kommunikationstechnik führen dazu, dass er sich immer ansprechbar fühlt. Die Sehnsucht, nach der Arbeit die Füße hochzulegen, ist dem pflichtbewussten Schielen auf das Mobiltelefon gewichen, mit dem abends noch einmal sichergestellt wird, dass nichts vergessen wurde.

Warum der Arbeiter sich das gefallen lässt? Er hat Gefallen an der Geschichte vom neuen Sinn des Lebens gefunden. Er will glauben, dass eines ihn nicht verlässt, wenn alle ihn verlassen: die Arbeit.

Mittlerweile ist es für viele Menschen schlimmer, die Arbeit zu verlieren, als aus ihren sozialen Bezügen herauszufallen. Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die gekündigt wurden, genauso traumatisiert sind wie nach einer Scheidung – nur, dass sie deutlich länger brauchen, um dieses Trauma zu verdauen. Auch, dass psychische Erkrankungen bei Arbeitnehmern den Verschleiß von Körper und Knochen statistisch längst überholt haben, zeigt, wie sehr sich beim Menschen der postindustriellen Zeit alles um die Arbeit dreht.

Die momentane Situation auf dem Arbeitsmarkt verstärkt diesen Trend noch. Wer tatsächlich daran glaubt, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland in wenigen Jahren strukturell zu wenig Arbeitskräfte hat, muss die Reserve mobil machen. Wer die bezahlte Arbeit verliert, soll sich nicht mehr damit trösten dürfen, zeitweilig einer unbezahlten Tätigkeit nachgehen zu können. Der Ausweg von Millionen Hausfrauen im 20. Jahrhundert ist heute versperrt. Sich in die stille Reserve zurückzuziehen, ist im Jahrhundert der bezahlten Arbeit keine gern gesehene Option mehr. Die Schlaffies der 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts werden noch als die altertümlichen Nachfahren der Hippie- Generation belächelt. Die nachdenklichen Familienväter, die lieber Lehrer als Betriebswirte geworden sind, gehen langsam in Rente. Die Mittelschüler, die das Zeug zu Abitur und Studium hätten, doch Sparkassenangestellte oder mittlere Zollbeamte werden, werden heute als Fanal der deutschen Bildungskatastrophe gedeutet – und nicht mehr als Signal dafür genommen, dass in diesem Land noch immer jeder nach seiner Fasson selig werden darf.

Obwohl jedem klar ist, dass es auch in Zeiten des demografischen Wandels konjunkturelle Veränderungen gibt, dass früher oder später die Wanderung von Arbeit und Kapital die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt beheben wird, soll jeder arbeiten müssen: Ganztagskinderbetreuung, Nachmittagsschule, Tagesbetreuung für Senioren – sie alle versprechen jeder und jedem, dass sie sich selbst jetzt in der Arbeit verwirklichen können.

Über die Monetarisierung familiärer Beziehungen

So werde, wie die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen gerne argumentiert, den Menschen – und vor allem den Frauen – ein neuer Freiheitsraum eröffnet. Materiell unabhängig wie selten zuvor sollen sie jetzt endlich alles unter einen Hut bekommen können. Und doch wird im Kern dafür gesorgt, dass Menschen ihre unbezahlte Arbeit nicht mehr selber tun – damit andere sie tun können. Wer einem Brotberuf nachgeht, muss andere dafür bezahlen, dass sie sich um die Familie, die Kinder, die Alten und den Haushalt kümmern. So werden die familiären Beziehungen monetarisiert. Und was erst einmal vergeldlicht ist, lässt sich leicht der Welt der Familie entwinden und der Welt der Arbeit eingemeinden: Das Kind kommt in der Schule nicht mit? Da haben die Lehrer versagt. Denn die werden doch dafür bezahlt, dass die Kinder etwas lernen. Die bettlägrige Oma hat eine Druckstelle am Rücken? Der Pflegedienst ist schuld, der bekommt doch sein Geld, damit so etwas nicht passiert. Die Partnerschaft zerbricht? Das Online-Partner-Vermittlungsportal war offenbar sein Geld nicht wert. Wohl dem, der Arbeit hat – er kann die Verantwortung für seine Nächsten abstreifen und sie in eine Geschäftsbeziehung umwandeln.

Von den heute Jungen wird erwartet, dass sie effizient und konzentriert das leisten, was sie leisten können. Dauerhafte Teilzeit, das gemütliche Mittelmaß und der berechenbare lebenslängliche Achtstundentag sollen nach Möglichkeit der Vergangenheit angehören. Die Volkswirtschaft braucht jeden Kopf und jede Hand.

Das ist noch nicht einmal falsch. Es sind die hochproduktiven, leistungsfähigen und leistungsbereiten Köpfe, die einen großen Teil des Wohlstandes schaffen, von dem dieses Land lebt. Doch damit das so bleiben kann, brauchen diese Menschen keine neue Ideologie der Arbeit. Sie brauchen vernünftige Bedingungen für ihr Arbeiten und Leben. Die kollektiven Vereinbarungen des vergangenen Jahrhunderts können die umfassenden Ansprüche der Arbeitsgesellschaft von heute nicht mehr regeln. Heute muss jeder selbst für die richtige Balance seiner Angelegenheiten sorgen.

Es ist nur vernünftig, zuzugeben, wie wichtig Arbeit ist. Doch genau so vernünftig ist es, sich gegen die Überbewertung der Arbeitswelt zu wappnen. Die Stunden im Büro oder in der Fabrik sind keine Religion und sie sind kein Ersatz für das gute Leben. Sie sind eine Voraussetzung dafür, Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können. Wer zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen beruflicher Funktion und Privatleben trennen kann und beiden Bereichen ihren Platz zuweist, wird vermutlich dauerhaft in beiden Sphären besser zurechtkommen.

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