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Tankerunglück: Knallgas an der Loreley

Gefährliche chemische Reaktionen: Auch 18 Tage nach dem Unfall auf dem Rhein ist nicht klar, ob die Ladung des Tankers geborgen werden kann.

Die Nixe mit den langen, goldenen Haaren ist seit jeher berüchtigt. Schon im Mittelalter zerschellte so mancher hölzerne Nachen in der engen Rheinkurve, weil die blasse Jungfrau auf dem Schieferfelsen dem Kapitän die Sinne verstellt hatte.

Bis heute gilt die Flussenge zwischen Oberwesel und St. Goar als gefährlichste Stelle auf deutschen Binnenwasserstraßen. Riskant ist vor allem der Kurs stromabwärts, weil bei der „Talfahrt“ die Kurvenmanöver etwa dreimal so schnell gefahren werden müssen wie bei der „Bergfahrt“. Schiffsruder haben nur dann eine Steuerwirkung, wenn das Wasserfahrzeug deutlich schneller als die Fließgeschwindigkeit des Wassers ist. Zuletzt prallte hier 2003 ein Ausflugsschiff an die Felsen, 41 Passagiere erlitten Verletzungen.

Die Revierzentrale der Schifffahrt in Oberwesel ist aus diesem Grund eine der modernsten des Landes. Sie überwacht den Unfallschwerpunkt rund um die Uhr per Radar, durchlaufende Gefahrguttransporte müssen sich über Funk an- und abmelden.

Als am 13. Januar um 5 Uhr morgens das Tankmotorschiff „Waldhof“ plötzlich vom Radar verschwindet, ist den Revierwächtern sofort klar, womit sie es zu tun haben: Vier Mann Besatzung und 2378 Tonnen konzentrierte Schwefelsäure, das entspricht der Nutzlast von 21 Jumbojets. Die Wasserschutzpolizei ist sofort zur Stelle. Zwei Besatzungsmitglieder werden gerettet, von den beiden anderen fehlt bis heute jede Spur. Ob die gefährliche Ladung geborgen werden kann, ist auch 18 Tage nach dem Unfall noch nicht klar – obwohl die Gifttanker der BASF und anderer Chemiefabriken hier fast täglich vorbeilaufen, gibt es für den Fall der Fälle keine Pläne.

Dabei ist Schwefelsäure, im Vergleich zu anderen Industriechemikalien, eigentlich nicht besonders gefährlich. Mit dem Rheinwasser würde sie zu Gips (Kalziumsulfat) und Kohlensäure reagieren. Bei langsamem Ablassen der Tanks würde die Säure so schnell verdünnt, dass sie sich bereits einige hundert Meter stromabwärts nicht mehr nachweisen ließe. Für die rheinland-pfälzische Landesregierung ist diese, psychologisch problematische Variante jedoch nur die Ultima Ratio.

Ein Umpumpen der Säure in ein anderes Tankschiff ist technisch komplizierter und für die Arbeiter gefährlicher. Hinzu kommt die Gefahr, dass immer mehr Rheinwasser in die Säuretanks eindringt, je länger die „Waldhof“ auf der Seite liegt. Schwefelsäure wird nämlich erst richtig gefährlich, wenn sie mit einer geringen Menge Wasser verdünnt wird (bei großer Verdünnung ist sie wieder ungefährlich). Sie erhitzt sich dabei und entfaltet erst jetzt ihre ätzende Kraft. Während die ursprünglich geladene, 96-prozentige Schwefelsäure die Edelstahltanks nicht angreift, kommt es nach dem Eindringen von Wasser zur Korrosion und zur Bildung von Wasserstoff. Dadurch erhöht sich der Druck in den Tanks. Zusammen mit Luftsauerstoff bildet Wasserstoff ein explosives Gemisch („Knallgas“): Ein winziger Funke kann dann eine Detonation auslösen.

Bevor die Säure umgepumpt werden kann, mussten die sieben Tanks unter größter Vorsicht ohne Funkenbildung angebohrt werden. Währenddessen wurde, neben der Schifffahrt, auch der Verkehr auf den Straßen und Bahngleisen am Rheinufer gesperrt. Dann wurde das bereits gebildete Knallgas durch Einleiten von Stickstoff ausgeblasen. Erst jetzt können die großen Löcher für die Ansaugstutzen der Pumpen gebohrt werden. Es wird deshalb noch eine Weile dauern, bis die Totalsperre für Talfahrer aufgehoben werden kann.

Erst danach soll die Unglücksursache genauer untersucht werden, die Experten bislang ein Rätsel ist. Im schlimmsten Fall könnte die Konstruktion der Chemieschiffe mitschuldig sein. Sie haben mehrere getrennte Tanks, deren Größe auch für Flüssigkeiten geringer Dichte ausreicht. Weil Schwefelsäure jedoch eine hohe Dichte hat, werden die Tanks nicht ganz gefüllt, sonst würde die maximale Tragfähigkeit des Schiffes überschritten.

Diese bisher nur theoretische Erklärung würde bedeuten, dass die Bauvorschriften für Gefahrguttanker überarbeitet werden müssen – das wäre der GAU für die chemische Industrie am Rhein. Dagegen klingt die Sage vom betörenden Haar der Loreley geradezu beruhigend.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

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