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Meinung: Teilen und herrschen

Ist die westliche Wertegemeinschaft noch zu retten? Von Heinrich August Winkler

Gewöhnlich sind die militärischen Sieger eines Krieges auch seine politischen Gewinner. Doch das muss nicht immer so sein. Den Irakkrieg haben die USA militärisch gewonnen, politisch aber noch längst nicht. Es ist fraglich, ob sie ihn je gewinnen werden.

Die stärkste Kraft im Irak sind derzeit nicht zurückgekehrte Exilpolitiker, sondern die religiösen Führer schiitischer Islamisten, die den Abzug der Amerikaner verlangen. Wenn diese Kräfte als Sieger aus freien Wahlen hervorgehen, ist das amerikanische Konzept „Verwestlichung durch Befreiung" gescheitert. Es würde sich auch dann als Fehlschlag erweisen, wenn die Amerikaner versuchen sollten, die islamistische Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, freie Wahlen zu verzögern oder zu verhindern, oder wenn sie nicht bereit wären, ein politisch unerwünschtes Wahlergebnis anzuerkennen.

Den von den USA erhofften prowestlichen Dominoeffekt im Nahen Osten würde es in keinem dieser Fälle geben. Vielmehr dürften die Skeptiker Recht bekommen, die vor einem Krieg gewarnt haben, weil er die ganze Region zu destabilisieren drohe. Sollte es so kommen, hätte in Europa niemand Anlass zur Schadenfreude. Ein vom Irak ausgehender islamistischer Dominoeffekt wäre eine Niederlage des gesamten Westens.

Die transatlantischen Beziehungen befinden sich, ausgelöst durch den Streit um den Irakkrieg, in der tiefsten Krise seit Gründung der Nato im Jahre 1949. In dieser Krise spiegeln sich grundsätzliche Differenzen über die Zukunft des Völkerrechts und der UN. Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA vom 20. September 2002, die ausgefeilte BushDoktrin, nimmt für die USA ein Sonderrecht auf präventive Selbstverteidigung und jedwede Art von vorwegnehmenden Aktionen in Anspruch und kündigt damit der UN-Charta die Loyalität auf. Die größte Errungenschaft in der Geschichte des Völkerrechts, die Ächtung des Angriffskriegs, ist damit von der stärksten Militärmacht der Welt außer Kraft gesetzt worden – von derselben Macht, der die Welt diese Errungenschaft verdankt. Das ist ein revolutionärer Akt, dessen einschneidende Bedeutung vielen Europäern noch gar nicht bewusst geworden ist.

Theorie und Praxis des amerikanischen Unilateralismus stellen die viel beschworene „westliche Wertegemeinschaft" radikal in Frage. Ein normativ entkernter Westen: Das ist ein Widerspruch in sich selbst. Ein Westen, der glaubt, er könne auf normatives Denken verzichten, hört auf, der Westen zu sein. Dieser amerikanischen Herausforderung kann sich der europäische Teil des Westens nicht fügen. Europa muss die Wiederherstellung des Respekts für das Völkerrecht als eine seiner vornehmsten Aufgaben begreifen. Es darf daher nicht an der weiteren Schwächung der UN mitwirken, wie sie von der vorherrschenden Richtung innerhalb der Bush-Administration angestrebt wird, sondern muss auf das Gegenteil hinarbeiten: die Reform und die Stärkung der UN.

Anfang Mai haben die Außenminister der EU die Ausarbeitung einer europäischen Sicherheitsstrategie beschlossen. Sie müsste eine Antwort geben auf die Frage, wo das Völkerrecht der Weiterentwicklung bedarf. Das gilt für den Schutz der Menschenrechte bis hin zu „humanitären Interventionen". Es gilt auch für das Problem, ob die neuartige Herausforderung durch den internationalen Terrorismus eine neue Definition des Begriffs der „unmittelbaren Bedrohung" erforderlich macht, die laut UN-Charta das Recht auf Selbstverteidigung begründet.

Europa muss viel mehr für seine Verteidigung tun. Eine europäische Sicherheitsstrategie darf aber nicht nur ein militärisches Konzept zur Bekämpfung des Terrorismus sein. Die EU kommt nicht darum herum, eine umfassende Friedensstrategie zu erarbeiten, die politische, soziale und interkulturelle Anstrengungen zur Entschärfung und Lösung von Konflikten einschließt. Eine solche Strategie bedarf eines Grundkonsenses der alten und der neuen Mitglieder der EU. Dieser Konsens setzt das Bemühen um Verständnis für die jeweils andere Seite, also einen offenen Dialog über die unterschiedlichen Erfahrungen und Prägungen von „West-“ und „Osteuropäern" voraus. Wenn die Europäer die dazu nötige Kraft nicht aufbringen, droht das „Projekt Europa" zu scheitern – und damit auch das atlantische Bündnis, das ohne Grundkonsens ebenfalls keine Zukunft hätte.

Ein Fehlschlag des Vorhabens, aus der erweiterten EU einen außenpolitisch handlungsfähigen Akteur zu machen, würde zur Renaissance von Plänen für ein „Kerneuropa", die Herausbildung eines engeren und eines weiteren Bundes innerhalb der Union, führen. Daraus könnte leicht eine neue Spaltung Europas erwachsen, und das just zu der Zeit, in der es möglich geworden ist, die Folgen der Spaltung von Jalta endgültig zu überwinden. Eine solche Entwicklung käme manchen Falken in Washington gerade recht, entspräche sie doch der klassischen imperialen Devise „Divide et impera" – „Teile und herrsche". Für die Europäer hingegen wäre ein neuer Riss durch den Kontinent tragisch. Sie können ihn noch verhindern. Aber es ist höchste Zeit, die Herausforderung zu erkennen und zu handeln.

Der Autor lehrt Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Foto: M. Wolff

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