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Meinung: Telekom und Börse: Und der Zukunft abgewandt

Was ist los mit dem Kapitalismus? Er war doch einmal so schön.

Was ist los mit dem Kapitalismus? Er war doch einmal so schön. Heute Aktien kaufen und morgen reich werden, lautete die Losung vor einem Jahr. Viele haben sich anstecken lassen. Jetzt ist alles anders gekommen. Der freie Fall der Telekom-Aktien ist nur das Symbol. Doch am Sturz der Telekom-Aktie zeigt sich: Es geht nicht nur um die Nische des Neuen Marktes. Es geht ums Ganze. Die Talfahrt an den Börsen nimmt seit Wochen kein Ende. Aktien kaufen und arm werden, heißt heute für viele die böse Lehre. Und wer zuletzt gekauft hat, fühlt sich heute besonders betrogen. Denn er musste die teuersten Einstiegspreise zahlen und wurde Opfer des größten Kursverfalls.

Haben all jene gelogen, die im vergangenen Jahr das Paradies stetigen Wachstums versprochen haben? Ja. Wer das versprach, der hat geschwindelt. Und wenn Privatkundenbetreuer, Analysten oder Journalisten diesen Eindruck für ihre Interessen ausgenutzt haben, dann dürfen sie sich zumindest nicht beschweren, dass sie sich heute den Zorn empörter Kleinanleger zuziehen.

Doch die Wahrheit ist komplizierter: Die Wirtschaft misstraut heute der Zukunft und schaut wieder auf die Gegenwart. Es war die Hoffnung auf Zukunft, welche die Telekommunikationsunternehmen vor einem Jahr dazu brachte, Milliarden zur Ersteigerung einer UMTS-Lizenz und abermals Milliarden zum Aufbau der technischen Infrastruktur in die Hand zu nehmen. Wer auf die Zukunft blickt, muss dieses Verhalten honorieren. Denn er hofft auf ein großes Geschäft in einer neuen multimedialen Mobilfunkwelt. Wäre Ron Sommer bei UMTS zurückhaltend gewesen - die Börse hätte ihn damals bestraft. Der gleiche Mechanismus trieb auch viele andere Zukunftsbranchen an: Wer in Biotechnologie investiert, glaubt daran, dass den Menschen ihre Gesundheit teuer ist. Und das verspricht ein Geschäft für alle Unternehmen mit neuen Pharmazeutika. Und wer auf E-Commerce setzt - vom Einkauf bei Daimler-Chrysler bis zum Verkauf beim Schuster um die Ecke - der will dabei sein, wenn sich die Vertriebswege aller Produkte und Dienstleistungen revolutionieren. Dieser Blick der Wirtschaft auf die Zukunft in Zeiten bedeutender technologischer Erneuerung hat die Börsen im letzten Jahr getrieben. Wer weiß schon, wo die Grenze liegt zwischen Treiben und Übertreiben?

Doch plötzlich hat einer den Kopf gedreht. Die Wirkung ist dramatisch. Sie gleicht einem Effekt, den Wahrnehmungspsychologen Figur-Grund-Wechsel nennen. Investitionen in die Zukunft werden plötzlich zu Schulden in der Gegenwart. Siehe Deutsche Telekom. Gewinne von morgen werden plötzlich Verluste von heute. Siehe Dell, Amazon e tutti quanti. Schon die Sprache verrät den Wechsel: Vor einem Jahr suchte man die "Story" jeder neuen Aktie: Das ist die Hoffnung auf ein gutes Ende der Geschichte. Heute fällt der Blick der Anleger auf die fundamentalen Daten der Bilanzen; da zeigen sich rückläufige Gewinne und Wertberichtigungen. Und die Arbeitnehmer wenden sich ab von Mitarbeiter-Aktien - "Optionen" sind auch eine Metapher der Zukunft - und fordern von ihrem Arbeitgeber wieder Festgehälter und Sozialleistungen, einlösbar in der Gegenwart.

Die Botschaft der Blickveränderung ist ernüchternd: Was sind schon faire Kurse? Unter Zukunftsbezug konnten die Leute nicht genug Aktien bekommen; das hat die Papiere verteuert. Unter Bezug auf die Gegenwart halten sich die Anleger zurück. Und der Preis gibt nach. Der Kapitalismus ist so schön wie immer. Aber er kann seine Bindung an die Gegenwart nicht lösen.

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