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Meinung: Terrorismus: Kainsmale

Der Vorzug der offenen Gesellschaft besteht in ihrer Fähigkeit zur ständigen Selbstkritik. Dieser Vorzug muss sich natürlich immer dann als besonders stark erweisen, wenn die offene Gesellschaft insgesamt herausgefordert wird - und sei es durch den Terrorismus.

Der Vorzug der offenen Gesellschaft besteht in ihrer Fähigkeit zur ständigen Selbstkritik. Dieser Vorzug muss sich natürlich immer dann als besonders stark erweisen, wenn die offene Gesellschaft insgesamt herausgefordert wird - und sei es durch den Terrorismus. Wer Fehlentwicklungen in unserer Politik kritisiert, ja sogar Ursachen für den Terrorismus darin sieht, wird nicht zum Freund der Terroristen. Er muss sich nur fragen lassen, ob er mit seiner Analyse Recht hat. Ein Freund sagte mir dieser Tage: "Wenn Präsident Bush doch nur die 40 Milliarden in die Entwicklungshilfe stecken würde ..."

I Zum Thema Online Spezial: Terror gegen Amerika Umfrage: Haben Sie Angst vor den Folgen des Attentats? Fotos: Die Ereignisse seit dem 11. September in Bildern Fahndung: Der Stand der Ermittlungen Osama bin Laden: Amerikas Staatsfeind Nummer 1 gilt als der Hauptverdächtige Chronologie: Die Anschlagserie gegen die USA ch bin da skeptisch. Auch als der Bundespräsident in seiner eindrucksvollen Rede vor dem Brandenburger Tor einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Ungerechtigkeit auf der Welt und dem Terror unterstellte, hegte ich Zweifel - praktischer, aber auch philosophischer und anthropologischer Natur. Zur Praxis: Osama bin Laden und seine ziemlich privilegierten Terroragenten können nicht als Zeugen der Armut auftreten, der saudische Exil-Milliardär höchstens im Gegenteil: Die Ölstaaten des Nahen Ostens verfügen über einen derart immensen Reichtum, dass sie soziale Wohlfahrt und Gerechtigkeit längst hätten aus eigenen Kräften herstellen können, wenn sie nur wollten.

Im Übrigen: Wie soll denn auf kurze Sicht der Terror verhindert werden während der Zeit, in der die Gerechtigkeit auf Erden noch nicht in überzeugendem Maße gewährleistet ist? Der analytische Zusammenhang beider Entwicklungslinien ist schon rein zeitlich problematisch und kann ja nicht so gelesen werden: Wer nicht bald für gerechten Ausgleich sorgt, ist selber schuldig am Terrorismus. Mehr noch beschäftigen mich aber die philosophischen und anthropologischen Zweifel. Dazu nun fünf kurze Thesen und eine Beobachtung.

Erstens: Dass in der Welt größtmögliche Gerechtigkeit herrschen soll, ergibt sich aus unseren westlichen moralischen Imperativen, vielleicht mehr noch als aus anderen Moralsystemen. Wir halten diese Imperative aber nicht für westliches Sondergut, sondern für universell gültig. (Allein dieser Universalanspruch schafft vielleicht mehr Aggression als der Mangel an sozialem Ausgleich.)

Zweitens: Wenn es an dieser Gerechtigkeit mangelt, dann folgt die Kritik daran schon aus unserem Imperativen selber, nicht erst aus dem angeblich dadurch verursachten Auftreten der Terroristen.

Drittens: Wenn es Terrorismus gibt, ist dies für sich genommen weder ein Beweis für die Ungerechtigkeit in der Welt (erst recht nicht dafür, dass die Opfer daran Schuld trügen, individuell oder als Teil eines Kollektivs, einer Nation), noch ist die Ungerechtigkeit in der Welt für sich genommen eine zureichende Erklärung für den Terrorismus (erst recht natürlich nicht seine Legitimation).

Viertens: Die Forderung nach Gerechtigkeit ist intrinsisch begründet, ergibt sich also aus sich selbst heraus - und ist nicht etwa extrinsisch motiviert, etwa aus der Angst vor Terror. Wer nur aus solchen Sicherheitserwägungen für Ausgleich plädierte, dem ginge es nicht um Gerechtigkeit für andere, sondern um Sicherheit für - sich selber. Er könnte genauso gut die "Preise" für polizeiliche Sicherheitsvorkehrungen mit denen für soziale Gerechtigkeit vergleichen.

Fünftens: Selbst wenn überall Gerechtigkeit waltete, herrschte noch lange nicht überall Sicherheit und Gewaltlosigkeit. Zwischen Gerechtigkeit und Frieden gibt es zwar starke Beziehungen - aber sie sind, so wie Menschen beschaffen sind, nicht miteinander identisch. (Deshalb spricht die jüdisch-christliche Tradition realistisch vom Frieden und der Gerechtigkeit Gottes, nicht des Menschen.)

Wenn wir aber schon dabei sind, noch eine Beobachtung: Am Anfang unserer erzählten Geschichte steht der Brudermord des Kain an Abel. Von einem Wohlstandsgefälle zwischen beiden wird aber nichts berichtet. (Allerdings dieses: Der Mörder Kain wird hart bestraft, doch zugleich durch das Kainsmal geschützt - vor Rache, vor Mord.)

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