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Meinung: Träume und Albträume

Von Roger Boyes Auf dem Billigflug von Schönefeld nach London-Stansted gibt es nichts zu essen, und vielleicht ist das noch das Beste an diesem trostlosen Transit von einem heruntergekommenen Flughafen zum nächsten. Um mir die Zeit zu vertreiben, denke ich mir Buchtitel aus, mit denen man richtig Geld machen könnte: ein harmloses Hobby, das relativ wenig Energie kostet, weil ich die hunderttausend Worte, die nötig wären, um die Seiten hinter diesem ersten Geniestreich zu füllen, ja doch nie schreibe.

Von Roger Boyes

Auf dem Billigflug von Schönefeld nach London-Stansted gibt es nichts zu essen, und vielleicht ist das noch das Beste an diesem trostlosen Transit von einem heruntergekommenen Flughafen zum nächsten. Um mir die Zeit zu vertreiben, denke ich mir Buchtitel aus, mit denen man richtig Geld machen könnte: ein harmloses Hobby, das relativ wenig Energie kostet, weil ich die hunderttausend Worte, die nötig wären, um die Seiten hinter diesem ersten Geniestreich zu füllen, ja doch nie schreibe. So langsam habe ich eine Liste von ungefähr 75 Titeln zusammen, die fast alle auf langweiligen Flugreisen entstanden sind. Dieses Mal kam ich auf „Murder at the Times“ (Mord in der „Times“).

Warum auch nicht? Dozenten für kreativen Stil fordern doch immer: Schreiben Sie über ein Thema, bei dem Sie sich auskennen. Nach mehr als 20 Jahren als Auslandskorrespondent der „Times“ habe ich die Überlebensstrategien verfeinert und kenne alle Fehden und Verschwörungen in der Redaktion. Warum sollte die Zeitungspolitik, die so viel latente Gewalt enthält, nicht mörderische Absichten provozieren?

Auf dem Rückflug kam mir eine andere ziemlich gute Idee, aber darüber schlief ich ein. Denn wir waren ziemlich verspätet wegen eines Fluglotsenstreiks.

Mein nächstes Abenteuer in der Welt des virtuellen Buches hatte ebenfalls mit dem Flugverkehr zu tun. Ich wurde an den Bodensee geschickt, um über das schreckliche Unglück zu berichten. Ich musste schon über einige Zusammenstöße, Massaker und Hotelbrände berichten, das ist Teil meines Jobs. Journalisten haben eine Art Katastrophen-Vokabular entwickelt, um sich von der physischen Brutalität des Ereignisses zu lösen und ihm eine moralische Dimension abzugewinnen. Wie konnte die Technik diese Menschen so im Stich lassen? Welche Auswege bleiben in einer solchen Krisensituation? Was für eine Lotterie ist das Leben, wenn Kinder, nur weil sie ein Flugzeug verpasst haben, so jung sterben müssen?

Interessante Fragen, aber auch ziemlich vorhersehbare. Diesmal kam es anders. Der Pfarrer in Überlingen, Gerd-August Stauch, ist ein nachdenklicher Mann. Natürlich auch ein dankbarer, weil die Trümmer der Tupolev und der Boeing niemanden aus seiner Gemeinde getötet haben. In erster Linie aber ein nachdenklicher: „Wir sind verschont worden und wissen nicht, warum.“ Er hat Recht. Die Boulevardblätter schreiben unterdessen von einem Wunder – was für ein Wunder soll das sein, das brennende Kinder aus 12 000 Metern Höhe auf die Erde wirft? Der Pfarrer aber hatte verstanden, dass Überlingen nicht zufällig gerettet wurde.

Mein Vorschlag wäre: Beobachtet die Kinder von Überlingen – wie sie aufwachsen, welchen Lebensweg sie einschlagen. Sie sind etwas Besonderes geworden. Plötzlich habe ich verstanden, vielleicht etwas spät, was die eigentliche Aufgabe in meinem Beruf ist: das Besondere herauszufinden. Und nicht von Bestsellern zu träumen, die nie geschrieben werden.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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