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Meinung: Trauer schützt gegen Rechthaberei

Aus Vertreibern und Vertriebenen sind inzwischen Miteuropäer geworden

Die Geste ist schon die halbe Botschaft. An diesem Sonnabend kommt der Bundespräsident zum „Tag der Heimat“ – so etwas wie das alljährliche politische Hochamt des Bundes der Vertriebenen. Bevor man diesen Auftritt auf seine Bedeutung abzuklopfen versucht, heißt es den Kontext zu würdigen, in dem der Besuch des Staatsoberhaupts steht. Am Tag zuvor war Bundeskanzler Schröder in Prag und holte damit den Besuch nach, der vor eineinhalb Jahren scheiterte, weil der tschechische Ministerpräsident Milos Zeman in rüder Weise die deutsch-tschechische Vergangenheit zum Thema machte. Der Streit darüber, ob ein zu gründendes „Zentrum gegen Vertreibung“ seinen Sitz in Berlin haben soll – oder gerade dort – nimmt an Massivität zu. Das alles vollzieht sich vor dem Hintergrund einer so nie zuvor spürbar gewordenen Bereitschaft, die Vertreibung als ein großes historisches Thema wahr- und anzunehmen.

Eine ideale Gelegenheit für Rau, das präsidiale Markenzeichen zur Geltung zu bringen, also zu versöhnen wo früher kräftig gespalten wurde? Der „Tag der Heimat“ könnte solche Salbung brauchen, denn er hat einen zwiespältigen Ruf. Noch Raus Vorgänger Roman Herzog wurde vor sieben Jahren bei diesem Anlass von einem Zwischenrufer als „Vaterlandsverräter“ beschimpft. Die Versammlungen des Vertriebenen-Bundes waren immer für starke Worte und herausfordernde Ansprüche gut. Zumindest seit der neuen Ostpolitik, dem Beginn des Zerwürfnisses zwischen den Verbänden und der Mehrheit der Politiker, glichen Auftritte bei den Vertriebenen-Heerschauen oft Vorstößen in Feindesland.

Insofern waren diese Veranstaltungen nicht untypisch für die Situation, in der sich die Vertriebenen und der Rest der Republik befanden. Trotz und Anspruch, folkloristisch und nostalgisch aufgeputzt, auf der einen Seite, vorsichtige Distanz bis entschlossene Ablehnung auf der anderen. Das ist vorbei, fortgespült von dem Interesse am Thema, wie es sich zum Beispiel in dem Erfolg der Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass zeigte – und auch vom Umdenken vieler, die in der Vertreibung kein nationalistisches Unthema mehr sehen mögen, mit dem sich ein aufgeklärter Kopf nicht abgibt. Die Frage ist nur: Wie sehr ist es vorbei? Hat die Vertreibung ihren Platz im kollektiven Bewusstsein gewonnen – und in welcher Gestalt?

So ganz ausgeräumt ist die Konfliktlage ja keineswegs. Der Streit um das Zentrum zeigt es. Da stehen sich dann doch die alten Lager gegenüber – die Regierungsparteien mit dem Kanzler gegen Berlin, die Opposition dafür. Auch die Unterstützungsbataillone, die jetzt mobil machen, kommen einem bekannt vor. Die alten Debatten um die Vergangenheit, um Verantwortung und Verdrängung scheinen nochmals aufzuflackern, freilich, das schon, auf aufgeklärterem Niveau. Wieder taucht die Formel von der „Deutungshoheit“ auf – Symptom dafür, dass sich die Intellektuellen und Publizisten auf dem Kriegspfad befinden. Nicht zuletzt werden die Stimmen in den Nachbarländern, in Tschechien wie in Polen, schärfer, kritischer, ablehnender.

Da ist noch viel zu versöhnen. Besser: da müssen sich noch viele bewegen, in Gedanken und Überzeugungen. Die Positionsflaggen, die im Streit um das Zentrum aufgezogen wurden, da Berlin, dort mehr Europa, können nur ganz ungefähre Standortangaben sein. Es käme vielmehr darauf an, in der Debatte die große Wendung zu realisieren, die Deutschen und ihre Nachbarn, einstige und jetzige Bewohner Schlesiens, Pommerns oder Mährens vollziehen: dass da nicht mehr Vertriebene und Vertreiber miteinander zu tun haben, sondern Mit-Europäer, seit neuestem sogar Teilhaber der gleichen politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft. Der Untergrund von Trauer über das Geschehene soll bleiben, muss bleiben. Nützen kann er auch: Trauer schützt gegen Rechthaberei.

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