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Die Türkei, in der Angela Merkel dieses Mal gelandet ist, ist nicht mehr nur Bittsteller.

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Türkei-Besuch der Kanzlerin: Merkel wirbt um Erdogan

Solange die Türkei wirtschaftlich und politisch keine Alternativen zu Europa sah, fuhr die EU mit dieser Hinhaltetaktik ganz gut. Doch diese Zeiten sind vorbei. Angela Merkel wird den Türken bei ihrem Besuch etwas mehr als weitere Verhandlungen bieten müssen.

Ein nachhaltiger Wirtschaftsboom und der Aufstieg zur Regionalmacht machen die Türkei aus Sicht der EU plötzlich wieder attraktiv. Frankreich mildert sein striktes Nein zur türkischen Bewerbung, und auch Angela Merkel ist nun dafür, die Verhandlungen mit Ankara wieder anzukurbeln. Die Grundsatzfrage, ob die EU die Türkei wirklich aufnehmen will, ist aber nach wie vor ungeklärt – auch Merkel wird in Ankara wieder eine klare Antwort darauf vermeiden. Hier und da ein neues Verhandlungskapitel zu öffnen, genügt jedoch nicht mehr, um eine weiter erstarkende Türkei an Europa zu binden.

In den acht Jahren seit dem Beginn ihrer Beitrittsverhandlungen hat die Türkei nur etwa ein Drittel der geforderten Verhandlungskapitel angehen können. Zum Teil liegt das an den Türken selbst. Doch vor allem liegt es an der Skepsis und zuweilen Feindseligkeit, die der türkischen Bewerbung in einigen EU-Ländern entgegengebracht wird. Unter Nicolas Sarkozy sperrte Frankreich fünf Verhandlungsbereiche, weil der Präsident die Türken nicht leiden konnte. Unter François Hollande hat in Paris nun ein Umdenken begonnen, und auch die skeptische Bundeskanzlerin will jetzt neuen Schwung in die Verhandlungen bringen. EU-Kommissar Günther Oettinger und Außenminister Guido Westerwelle sehen schon den Tag kommen, an dem die EU die Türkei mehr braucht als umgekehrt.

Denn die Türken sind plötzlich wer. Wäre ihr Land heute EU-Mitglied, läge es auf Rang sieben in der Liste der stärksten Volkswirtschaften der Union. Die Türkei ist Mitglied der G-20 und ein unverzichtbarer Partner der USA. Politisch streckt die Erdogan-Regierung ihre Fühler nach Asien, nach Nahost und nach Afrika aus.

Aus dem armen Bittsteller am Rande Europas ist also eine selbstbewusste Mittelmacht mit dynamischer Wirtschaft geworden, die in der von Krisen geschüttelten EU viele aufhorchen lässt. Konkrete politische Konsequenzen hatte das bisher aber nicht. Nach wie vor wollen Politiker wie Merkel die Türkei zwar nicht verlieren, aber in die EU aufnehmen wollen sie das Land auch nicht.

Solange die Türkei wirtschaftlich und politisch keine Alternativen zu Europa sah, fuhr die EU mit dieser Hinhaltetaktik ganz gut. Doch der Aufstieg des Landes verändert die Spielregeln. Merkel will in Ankara unter anderem herausfinden, wie ernst es Erdogan mit seinen öffentlichen Überlegungen über eine Heranführung der Türkei an die von China und Russland dominierte Organisation der „Shanghai Five“ ist. Das veränderte Verhältnis verringert schon jetzt die Einflussmöglichkeiten der EU in der Türkei. Warum soll Erdogan die Kritik an den autoritären Zügen seiner Regierung stören, wenn er gleichzeitig von Merkel und anderen EU-Spitzenpolitikern ständig zu hören bekommt, die Türkei eigne sich nicht für eine Mitgliedschaft?

Die Äußerungen von Oettinger und Westerwelle zeigen, dass die bisherige Linie in der EU unter Beschuss gerät. Vielleicht will auch Merkel bei ihrem jetzigen Besuch subtile Zeichen für eine Neubewertung der türkischen Bewerbung setzen. Ihr Ankündigung, sich für die Öffnung eines weiteren Verhandlungskapitels einzusetzen, deutet diese Bereitschaft an. Doch auf Dauer werden solche Gesten nicht ausreichen, um die Türkei bei der Stange zu halten. Nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds wird die Wirtschaft der Türkei auch in den kommenden Jahren wesentlich stärker wachsen als die EU-Volkswirtschaften, vor allem dank steigender Exporte. Die EU bleibt in diesem Bereich für die Türkei zwar sehr wichtig. Doch während die türkischen Ausfuhren etwa nach Deutschland sinken, boomen die Exporte nach Nahost und Afrika mit zweistelligen Wachstumsraten.

Diese Entwicklung dürfte weitere politische Gewichtsverschiebungen mit sich bringen, bei der die EU trotz ihrer großen Bedeutung für Ankara nicht unbedingt im Mittelpunkt des Interesses stehen wird. „Multipolar“ ist ein neues Lieblingswort türkischer Außenpolitiker. Türkische EU-Experten sind deshalb der Meinung, nur eines könne den Verhandlungsprozess mittelfristig am Leben erhalten: eine feste Beitrittszusage aus Brüssel.

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