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Der türkische Präsident Erdogan. Wer ist der geheimnisvolle Informant in seinem Umweld?

© dpa

Türkei: Erdogan sieht einen Abgrund von Landesverrat

Der Präsident der Türkei meint, die Demokratie seines Landes verletzen zu müssen – um sie zu retten. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Die regierungstreue Justiz und Polizei sperrt den Chefredakteur einer Zeitung ein, Drehbuchautoren einer Fernsehserie werden von der Anti- Terror-Polizei abgeholt. Was ist bloß in den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gefahren?

Dazu muss man sich in die Welt versetzen, in der Erdogan und seine Gefolgsleute wie Ministerpräsident Ahmet Davutoglu leben. Während der Westen und die Kritiker in der Türkei selbst der Regierung vorwerfen, aggressiv gegen Andersdenkende vorzugehen und dabei die Regeln der Gewaltenteilung außer Kraft zu setzen, sehen sich Erdogan und Davutoglu als Opfer undemokratischer Angriffe.

Die Gezi-Proteste? Ein Putschversuch

Das mag angesichts von Erdogans Verhalten erstaunen, hat aber mit den Erfahrungen der islamisch-konservativen Türken unter der langen Herrschaft der säkularistischen Eliten zu tun. Bis Erdogan die Militärs entmachtete und das Monopol der Säkularisten in den Führungspositionen von Staat und Gesellschaft beendete, fühlten sich fromme Türken mit einigem Recht als Bürger zweiter Klasse.

Erdogans großes Versagen als Politiker besteht darin, dass er diese Vergangenheit nicht hinter sich lassen kann. Selbst als mächtigster türkischer Politiker seit Staatsgründer Atatürk sieht er sich von Feinden umringt. Die Gezi-Proteste? Ein Putschversuch von türkischen Regierungsgegnern, gesteuert von finsteren Kräften im Ausland. Die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung? Ein fieses Komplott der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen.

Erdogan meint es ernst, wenn er die Festnahmen der Journalisten als Quittung für antidemokratische Machenschaften rechtfertigt. Was von außen absurd wirkt, erscheint dem Präsidenten konsequent und notwendig: die Grundregeln der Demokratie verletzen, um die Demokratie zu retten.

Ein solcher Realitätsverlust einer Regierungsmannschaft, die seit mehr als zehn Jahren an der Macht ist, von der Schwäche der Opposition profitiert, und glaubt, gegen Staatsfeinde in der Presse vorgehen zu müssen, ist keine Spezialität der Türkei. Konrad Adenauer verhielt sich in der „Spiegel“- Affäre von 1962 ganz ähnlich – er sprach damals von „einen Abgrund von Landesverrat“ durch die festgenommenen Journalisten.

Die Liste stammt von Erdogan und seinen Beratern

Das Problem ist, dass sich die türkische Demokratie nicht auf starke und unabhängige Institutionen wie die Justiz stützen kann, um eine außer Kontrolle geratene Regierung und ihren Präsidenten in die Schranken zu verweisen. Die Opposition sieht die Türkei auf dem Weg in die Diktatur.

Nach dem Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung vor einem Jahr ließ Erdogan viele Richter und Staatsanwälte austauschen. Viele der neu ins Amt gebrachten Juristen tun das, was der Präsident von ihnen verlangt, und nicht das, was nach demokratischen Spielregeln das Richtige wäre. Angeblich wurde die Liste der Festzunehmenden nicht von den zuständigen Staatsanwälten ausgearbeitet, sondern von Erdogan und seinen Beratern.

Missstände solcher Dimensionen lassen sich nicht über Nacht korrigieren, und auch nicht von der EU. Nur die Türken selbst haben die Macht, ihrem Präsidenten klarzumachen, dass er mit dem immer radikaleren Vorgehen gegen tatsächliche oder eingebildete Feinde seinem Land schweren Schaden zufügt.

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