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Woher kommt die immer größer werdende Belastung am Arbeitsplatz?

© dpa

Überforderung am Arbeitsplatz: Sind wir selbst schuld an der Stressspirale?

Leistungsdruck, Überforderung und Burn-out - die offensichtlichen Gründe dafür liegen in den Betrieben und Chefetagen. Doch unser Autor Alfons Frese fragt sich, ob am Anfang der Stressspirale nicht wir selbst stehen.

Dieter Hundt ist ein weiser Mann, im Herbst wird er 75. Viele Jahrzehnte hat er als Ingenieur gearbeitet, unter anderem war Hundt Chef eines Autozulieferers, Aufsichtsrat eines Bundesligaklubs und Präsident der Arbeitgeber. Ein erfülltes Leben, eine schöne Karriere und das Gefühl von Wichtigkeit, wenn mit Kanzlern und Ministern über Deutschland gesprochen wird. Für Hundt hat Arbeit einen „sehr positiven Effekt“ auf die Psyche. Das glaubt man ihm gern. Aber Arbeit kann auch anders wirken, wie ein anderer weiser Mann wusste, der sich mit dem Warencharakter der Arbeitskraft befasst hat. „Der Arbeiter wird umso ärmer, je mehr Reichtum er produziert“, meinte Karl Marx.

Irgendwo zwischen Hundt und Marx steht Ursula von der Leyen. Die Arbeitsministerin aus der CDU hat einen Stressreport vorgelegt und dabei „Handlungsbedarf in den Betrieben“ konstatiert. Das ist auf den ersten Blick naheliegend: In Betrieben oder Büros wird gearbeitet, also liegt dort die Ursache für Leistungsdruck, Überforderung, Arbeitsverdichtung, Ärger mit Kollegen und Vorgesetzten. Doch die Situation in den Betrieben wird von der Politik mitbestimmt – diesen Umstand unterschlägt die Ministerin, damit sie sich einen schlanken Fuß machen und die Verantwortung für psychische Erkrankungen ausschließlich in der Wirtschaft verorten kann.

Es war die Politik, die den Arbeitsmarkt deregulierte und dadurch die Voraussetzungen für einen breiten Niedriglohnsektor und unsichere Arbeitsplätze schuf. Diese Politik ist einerseits erfolgreich: So viele Menschen wie nie haben einen sozialversicherungspflichtigen Job. Und andererseits verheerend: So viele Menschen wie nie können von ihrer Arbeit nicht leben, verdingen sich von einem Zeitvertrag zum nächsten und haben Angst vor Arbeitslosigkeit. Das sind die zwei Gesichter des deutschen Beschäftigungswunders. Gute Arbeit, gutes Geld und Wertschätzung im Beruf – das erleben vor allem die gut ausgebildeten Fachkräfte. Wer in der Arbeit aufgeht, und das meint Arbeitgeberpräsident Hundt, der wird eher nicht krank.

Vielleicht aber doch. Wenn der Warencharakter der Arbeitskraft irre Züge annimmt: nach dem Turbo-Abi ruckzuck Bachelor und Master im Uni-Käfig, zwischendurch Auslandssemester, drei Sprachen, mit Ende 20 im Unternehmen, Trainee, Assistent, Zweijahresvertrag bei der chinesischen Tochterfirma, Burn-out mit Ende 30, Therapie, Resozialisierung. Immer schneller, höher, weiter – bis es vorbei ist. Der Markt macht es wohl nötig. Die Globalisierung zwingt die Super-Exportnation Deutschland, ein hohes Tempo einzuschlagen. Mit der Gefahr, bisweilen aus der Kurve zu fliegen. Spätestens dann, wenn die Fehlzeiten unerträglich teuer werden, erkennen auch die Arbeitgeber und ihre Präsidenten, dass der Faktor Mensch empfindlicher ist als eine Maschine.

Und komplizierter dazu. Umso erstaunlicher, wie wenig in den Firmen in Personalentwicklung und Personalführung investiert wird. Eine Erklärung dafür steht im aktuellen Stressreport: Führungskräfte sind häufig besonders belastet und können deshalb nicht ordentlich führen. Weil sie sich überfordern, weil sie nicht delegieren können, weil sie andere nicht neben sich hochkommen lassen. Diese unverzichtbaren Alphamännchen sind Teil des Problems. Mit der zunehmenden Präsenz von Frauen in Führungspositionen wird sich das hoffentlich ändern.

Eine andere Problemgruppe sind – wir alle. Auf dem globalen Marktplatz wollen wir zu jedem Zeitpunkt das neueste, frischeste und angesagteste Produkt. Die Produzenten werden von uns, den Kunden, unter Stress gesetzt. Wir sind süchtig nach Innovationen, immer kürzer werden die Produktzyklen. Früher gab es einen neuen VW Golf alle sieben Jahre, heute kommt das nächste Modell nach vier Jahren. In China bauen 80 000 Menschen in einer einzigen Fabrik das iPhone für kleinen Lohn, damit wir uns und unseren Vierzehnjährigen das kleine Wunderding kaufen können. Jedes Jahr eine neue Version. Muss das sein? Was machen wir da? Welche Folgen hat das? Mit diesen Fragen eines kritischen Konsumenten beginnt die Stressprävention.

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