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Ukraine: Jenseits von Freiheit und Russland

Wird die Ukraine zum zweiten Georgien? Das Land hat es selbst in der Hand.

Die traurigste Nationalhymne der Welt beginnt so: „Noch ist die Ukraine nicht gestorben.“ Da pfeift ein Land sprichwörtlich auf dem letzten Loch. Wen wundert’s, dass in Europas größtem Flächenstaat auch der politische Sound meist klingt, als sei die Ukraine nur gerade eben noch am Leben.

Die schrillsten Töne in diesem Chor der Fatalisten sind derzeit von der Krim zu vernehmen. Sperrte sich dort schon lange eine russisch orientierte Bevölkerungsmehrheit gegen Vereinnahmungsversuche der Zentralregierung, so proben die regionalen Behörden im Fahrwasser des Georgienkonflikts nun den offenen Aufstand. Aus der autonom verwalteten Provinz erging der Aufruf an Kiew, Moskau zu Gefallen die abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien anzuerkennen. Präsident Viktor Juschtschenko, der das Dauerchaos im Lande vorzugsweise auf äußere Einflüsse schiebt, dürfte sich von diesem Vorstoß in seiner Paranoia bestätigt sehen: Auch den endgültigen Koalitionsbruch mit seiner Premierministerin Julia Timoschenko hatte der Präsident damit begründet, dass sich Letztere nicht seiner Beurteilung der Georgienkrise anschließen wollte.

Von Timoschenko wiederum weiß derzeit niemand, wes Lied sie singt. Ging die Premierministerin lange mit grell antirussischen Tönen auf Stimmenfang, scheint sie nun alles daran zu setzen, im Konzert mit Moskau ihre Präsidentschaftsambitionen zu verwirklichen. Der vorgebliche Kampf um eine Richtungsentscheidung – West oder Ost, Europa oder Russland – entlarvt sich als bloßes Postengerangel, und längst fühlt sich das Wahlvolk zum Klangkörper degradiert, mit dessen Stimmen lediglich persönliche Machtansprüche orchestriert werden sollen.

Es wird kein rechter Chor daraus. Zumal seit geraumer Zeit auch jenseits der Landesgrenzen kräftig mitgesungen wird. Russland, das den Sewastopoler Stützpunkt seiner Schwarzmeerflotte auch über das vertraglich vereinbarte Datum 2017 hinaus erhalten will, unterstützt aktiv die Autonomiebestrebungen der Krim. Den USA wiederum kommt der Krimkonflikt gelegen, weil er – nach dem Muster der Georgienkrise – die Dringlichkeit einer ukrainischen Nato-Mitgliedschaft unterstreichen könnte, wie sie sich Washington zur Eindämmung Russlands wünscht. Der Westen dürfe nicht „einknicken“, wenn „freie Nationen“ unter Druck gesetzt würden, betonte gerade erst Außenministerin Condoleezza Rice: „Nicht in Georgien. Nirgendwo.“

Wenn die Ukraine in diesem zunehmend misstönenden Konzert nicht untergehen will, sollten sich ihre politischen Eliten schleunigst zusammenreißen – und einsehen, dass ein Land wie die Ukraine überhaupt nur im Interessenausgleich zwischen Ost und West, auch zwischen den östlich und westlich orientierten Teilen der eigenen Bevölkerung, bestehen kann. Wer sich zum Spielball äußerer Interessen macht, indem er politische Richtungsentscheidungen dem eigenen Machtstreben unterordnet, wird untergehen. Im Konzert der Mächte muss Kiew mit einer, mit eigener Stimme singen. Noch ist die Ukraine nicht gestorben. Aber viel fehlt diesmal wirklich nicht.

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