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Ein Mitglied der "Tamarod-Rebellen" kniet am Mittwoch in Kairo mit der ägyptischen Flagge vor Armeesoldaten. Zehntausende Ägypter fordern Präsident Mursi seit Tagen auf, zurückzutreten. Am Mittwochabend wurde Mursi von der Armee entmachtet.

© Reuters

Unruhen in Ägypten und der Türkei: Passt der politische Islam zur Demokratie?

Von der Türkei bis Ägypten wird mit der Religion regiert. Doch Kulturen der Vielfalt sind dort bisher nicht entstanden. Deshalb stellt sich die Frage: Passen politischer Islam und Demokratie zusammen?

Vor knapp zwei Wochen entstand in Ägypten aus der millionenfachen Empörung des Volkes ein Militärputsch gegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi. Einen Monat zuvor hatte die Türkei die internationalen Schlagzeilen beherrscht, als hunderttausende Demonstranten in Istanbul ihrem autoritär-polternden Regierungschef die Stirn boten, der sie als Hooligans und Terroristen beschimpfte. Die Menschen im Iran dagegen hatten erstmals seit acht Jahren wieder etwas zu bejubeln. Sie hievten vor drei Wochen ausgerechnet einen 64-jährigen bärtigen Geistlichen im ersten Anlauf ins Präsidentenamt, bloß weil dieser es im Wahlkampf gewagt hatte, die erstickende Sicherheitsatmosphäre im Land zu kritisieren und den Bürgern eine Charta privater Freiheitsrechte zu versprechen.

In der Türkei, in Ägypten und im Iran - die Konflikte gehen auf die Religion zurück

So unterschiedlich die Konflikte in den drei größten Nationen des Nahen Ostens auf den ersten Blick erscheinen, so sehr gehen sie auf ähnliche Wurzeln zurück. Millionen Menschen dort sind es leid, sich mit frommen Vorschriften bis in ihr Privatleben hinein bevormunden zu lassen. In der Türkei wollen sich die Menschen die autoritären Einschränkungen ihrer frommen Herrscher nicht länger gefallen lassen. Irans politische Klerikerkaste kann die junge, frustrierte Bevölkerung nur noch mit einem beispiellosen Polizeistaat in Schach halten. Und in Ägypten hatten sich nach der Wahl des mit Gewalt gestürzten Mohammed Mursi so tiefe Gräben aufgetan, dass es so aussah, als könnten säkulare und fromme Bürger nicht mehr länger in einer Nation zusammenleben.

Türkei, Iran und Ägypten – in allen drei Nationen weiß man, was es heißt, unter dem Banner des politischen Islam regiert zu werden. Doch wie staatsfähig und demokratietüchtig ist der politische Islam – der alte in Ali Khameneis Islamischer Republik, der mittlere in Recep Tayyip Erdogans Türkei und der jüngste in Mohammed Mursis Ägypten? Wie tolerant und plural kann eine islamische Führung agieren, die sich in Politik, Kultur und Privatleben Allahs geoffenbarten Wahrheiten verpflichtet fühlt? Und wer garantiert Andersdenkenden und Andersgläubigen den Raum für ihre Lebensstile, Frauenbilder und Familienideale?

Der politische Islam muss noch beweisen, dass er für offene Gesellschaften sorgt

Die Bilanz ist trübe. Nirgendwo auf der Welt hat der politische Islam bisher belegt, dass er für offene Gesellschaften und stabile demokratische Verhältnisse sorgen kann. Nirgendwo sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in der Türkei und im Iran, selbst im viel gescholtenen China nicht. Nirgendwo existiert eine produktive Koexistenz zwischen islamistischen Machthabern und säkularer Zivilgesellschaft.

Denn im Staatsverständnis von Islamisten sind die Grenzen zwischen Regierungsverantwortung und religiöser Agenda fließend. Staat und Religion werden verquickt und politisiert, die Bürger erleben dies als permanente Invasion in ihr öffentliches Dasein und persönliches Leben. Islamistische Staatschefs fühlen sich autorisiert, ihren Glaubensbrüdern vorzuschreiben, wo es im Leben langgeht. Entsprechend lang ist die Liste der Erdogan’schen Weisungen: Kein Weißbrot essen, Ayran trinken und nicht Raki, mindestens drei Kinder haben, keine Alkoholwerbung und kein nächtlicher Verkauf von Schnaps. Irans Khamenei bestimmt sogar, was echte Kunst sein soll und was seine Bürger im Internet zu sehen kriegen, dass alle Frauen Kopftücher tragen müssen und wie lang ihre Röcke zu sein haben. Der ägyptische Glaubensbruder Mursi ließ die Justiz sofort gegen angebliche Gotteslästerer zu Felde ziehen. Er hält Tanzen für unislamisch und sieht darin einen Verstoß gegen Artikel zwei der ägyptischen Verfassung, der die Scharia als Hauptquelle des Rechts festschreibt: „Denn beim Tanz, das wissen wir alle, beeinflusst der Tänzer mit seinem Körper die Zuschauer auf eine negative Weise“, dekretierte der fromme Ingenieur per Fernsehinterview, dessen Kulturerfahrung sich nach eigenem Bekunden auf Filme wie „Planet der Affen“ und „Vom Winde verweht“ beschränkt.

Vielfalt der Kulturen und Engstirnigkeit im Namen der Religion - so widersprüchlich ist der Nahe und Mittlere Osten

Religiös gehört der Nahe und Mittlere Osten in der Menschheitsgeschichte zu den kreativsten Regionen der Welt. Heute leben hier Menschen fast aller muslimischen, christlichen und jüdischen Glaubensvarianten zusammen. Über Jahrtausende hinweg hat sich ein faszinierendes Geflecht von Kulturen entwickelt. Gleichzeitig aber ist der Orient auch Wurzelgrund für beispiellosen Fanatismus, Engstirnigkeit und Gewalt im Namen der Religion – eine Polarisierung, die immer weiter zunimmt. Denn für die einen ist Vielfalt im Glauben ein Reichtum, für die anderen ein Missstand. „Was ist der Frühling ohne seine Vielfalt und Farbenpracht – und was ist diese Farbenpracht verglichen mit den grauen Nebelschleiern des Winters“, schrieb der griechisch-orthodoxe Erzbischof Paul Yazigi, der seit April in der Region Aleppo in Syrien von Kidnappern verschleppt ist. Vielfalt sei eine Bereicherung. Einfarbige Einförmigkeit dagegen eine Zeitbombe, die irgendwann auch ihren Besitzer töten werden.

Der saudische Justizminister Mohammed al Issa dagegen hat mit so etwas nichts am Hut. Saudi-Arabien erlaube die Einrichtung von nichtmuslimischen Gebetsstätten nicht und werde das auch in Zukunft nicht tun, bekräftigte er kürzlich in Brüssel bei einem Treffen mit der EU-Kommission. Ähnlich in der Türkei – auch hier werden Christen diskriminiert, Kirchenbau und Priesterausbildung behindert.

Die Unterscheidung zwischen "rein" und "unrein" ist Quelle religiöser Gewalt

Grund dafür ist ein vormodernes Toleranzverständnis. Fremde Glaubenspraxis auf dem eigenen Boden wird begriffen als Verunreinigung, als Störung zwischen der menschlichen und göttlichen Sphäre, als eine Provokation Allahs, die Unglück oder Strafen auf die Rechtgläubigen herabbeschwören könnte. Strenge Kleriker plädieren sogar dafür, dass Andersgläubige die Arabische Halbinsel überhaupt nicht betreten dürften. Osama bin Laden hatte dem saudischen Königshaus einst vorgeworfen, mit der Stationierung von US-Truppen im Kuwait-Krieg gegen Saddam Hussein das Land zu entweihen. Man kann diese Linie noch weiter ziehen – von der vormodernen Toleranz zur mörderischen Intoleranz.

Bekanntlich gehört die Unterscheidung zwischen „rein“ und „unrein“ in der Welt der Religionen zu den Fundamentalkategorien. Heute aber ist sie eine primäre Quelle religiöser Gewalt. Terrorgruppen erklären sich dazu ermächtigt, im Namen Gottes die Welt von Falschgläubigen, Ungläubigen und Abtrünnigen zu reinigen. Und sie haben bei ihren Mordtaten gleichermaßen alle im Visier, moderate Muslime, Christen und Säkulare.

Der politische Islam polarisiert die Gesellschaften

Und so halten diese beiden Gegenpole von heiliger Vielfalt und heiliger Einfalt inzwischen alle Gesellschaften des Nahen Ostens in Atem. Je monolithischer, je dogmatischer das fromme Gehabe, desto dekulturierter, argumentiert der Islamforscher Olivier Roy und spricht von einer „Dekulturation des Religiösen“. Vor allem die salafistisch-wahhabitischen Spielarten des Islam, die auf der Arabischen Halbinsel ihre Wurzeln haben, sind ausgesprochen kulturfeindlich und antiintellektuell. Für sie ist Kultur ein unberechenbarer und verführerischer Gegenspieler der reinen Rechtgläubigkeit. Kulturelle Vielfalt sehen sie als Bedrohung, sie verunklare die angeblich eindeutige Botschaft der heiligen Schriften.

Der abgeschottete Islam lässt sich leicht globalisieren

Kein Wunder, dass sich diese abgeschottete Version des Islam besonders leicht exportieren und globalisieren lässt. Sie ist mit keiner Hochkultur verwoben, braucht kaum kulturelle Kontexte und entlastet ihre Anhänger von komplexen und vielschichtigen Aneignungsprozessen. Salafisten locken ihre Glaubenskunden mit einer Handvoll simpler religiöser Marker, an denen diese ihre Rechtgläubigkeit messen können – in den arabischen Ländern an der Mittelmeerküste genauso wie in Europa. Mit einem schnellen Sprung befindet sich der Bekehrte in einer übersichtlich-strenggläubigen Welt von Eindeutigkeit und Orientierung, mit vermeintlich klaren Unterscheidungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Gläubigen und Irrgläubigen.

Die Folge ist eine summarische Einebnung von Normen, der Verlust einer differenzierten Hierarchie der Werte. Alles wird gleich wichtig. Und banale Regeln für das Alltagsbenehmen, wie Kopftuch tragen oder einer Frau die Hand geben, bekommen plötzlich einen zentralen Stellenwert, ja geradezu Indikatorfunktion für gottgefällige Rechtgläubigkeit. Unter solchen Vorzeichen zwingen sie dann ihren umgebenden Gesellschaften aggressive Kulturkämpfe auf, um sie von „unzüchtigen Umtrieben“ und „Falschgläubigkeit“ zu reinigen.

Der Trend zur Ausgrenzung von Minderheiten wächst

Im Nahen und Mittleren Osten ist die religiöse Polarisierung von Eindeutigkeit und Vielfalt zudem klar verortet. Das Zentrum der religiösen Vielfalt liegt in den Staaten entlang des Mittelmeers und Mesopotamiens, die eine vielschichtige, facettenreiche und tief gestaffelte Kultur- und Religionsgeschichte haben. In diesen Traditionen inkulturierter Religion wird religiöse Praxis von den Eltern an ihre Kinder mimetisch weitergegeben, also vorlebend und nachahmend, und damit kulturell getränkt und verwurzelt. In solchen Milieus gehört gegenseitige Toleranz beispielsweise zwischen Muslimen und Christen zum Alltag, weil sich die örtlichen Gläubigen durch viele gemeinsame kulturelle Wurzeln verbunden fühlen. Dagegen liegt das Zentrum von religiöser Eindeutigkeit und Kulturarmut in der Golfregion mit Saudi-Arabien als Schwerpunkt. Der religiöse Missionsdruck salafistischer Golf-Prediger, geschmiert mit Milliarden aus den prall gefüllten Ölkassen, ist so hoch, dass längst auch bei den Mittelmeeranrainern der Trend zu militanter Eindeutigkeit und Intoleranz, Ausgrenzung von Minderheiten und kultureller Monotonie wächst.

Religion ist nicht mehr zentrales Fundament des Staates

Zwischen strengen Islamisten und ihren Kritikern existiert ein grundsätzlicher Dissens über Rolle und Aufgabe des Staates sowie über das Verhältnis von Staat und Religion. Der politische Islam versteht den Staat als Transporteur und Treuhänder islamischer Normen. Machthaber wie der Iraner Khamenei, der Türke Erdogan oder der Ägypter Mursi wollen aus ihren Landsleuten per Staatsgewalt bessere Muslime machen. Sie nutzen den islamistischen Staat, um per Regierungsmacht Werte von oben vorzuschreiben.

Dagegen geht das westliche Konzept von einem im Prinzip wertneutralen Staat aus. Staat und Religion sind grundsätzlich voneinander getrennt, der Staat hat und der Staat vertritt keine Religion. Stattdessen ist er auf ethische Transferleistungen aus dem politischen und vorpolitischen Raum angewiesen, die er nicht aus sich selbst heraus generieren kann. Kehrseite dieses Staatskonzepts ist die Gefahr, dass die ideellen Quellen des Staates zurückgehen oder gar versiegen können, dass sich das soziale und moralische Kapital verbraucht, weil es nicht mehr ausreichend aufgefüllt wird. Religion aber ist nur eine unter verschiedenen Quellen für das Ethos einer Gesellschaft. Sie ist nicht mehr zentrales Fundament der staatlichen Ordnung. Und sie muss den Anspruch aufgeben, als geschlossenes Weltbild das Leben der Bürger umfassend zu regulieren.

Erdogan hat immer wieder versucht, seine Glaubenssätze in Gesetze zu pressen

Anders der politische Islam. Sein allgegenwärtiger religiöser Gestaltungsanspruch polarisiert die Gesellschaften. Sein Staatshandeln kennt keine klare Selbstbegrenzung. Und die nebulöse, religiöse Imprägnierung des Staates erzeugt bei seinen säkularen Bürgern ein permanentes Misstrauen. Bei jeder politischen Konzession bleibt ungeklärt, ob diese taktisch gedacht oder strategisch gemeint ist. Ist das Nachgeben Resultat einer grundsätzlichen Einsicht, dass der Staat nicht Agent eines bestimmten Weltbildes sein sollte? Oder ist es nur ein Winkelzug, um die Gemüter zu beruhigen, bis man irgendwann mit seinem frommen Masterplan weitermachen kann? Erdogan habe in den gut zehn Jahren seiner Regierung immer wieder versucht, seine konservativen Glaubenssätze per Gesetz voranzutreiben, erläutert die türkische Islamforscherin Sebnem Gümüscü. Die Reaktion der Bevölkerung beobachte er sehr genau. „Gibt es einen öffentlichen Aufschrei, zieht er die Maßnahmen wieder zurück.“

Beim Millionenprotest gegen Mohammed Mursi am vorletzten Sonntag in Kairo war auch Mahmud Zein auf dem Tahrir-Platz mit dabei. Der Orthopäde trägt keinen Bart, ist nicht als Muslimbruder zu erkennen. Vier Stunden hat er sich unter den Zeltplanen dazugesetzt und zugehört, was Mursis Gegner diskutieren. Pünktlich um 13 Uhr war dann Schichtwechsel. „Meine Kollegen sind eingetroffen, ich gehe jetzt nach Hause und schreibe meinen Bericht an die Führung“, sagte der 54-Jährige. Wie ein Geheimdienst trage die Muslimbruderschaft die Dossiers ihrer Beobachter im ganzen Land zusammen. Den Hass der Menge auf seine fromme Organisation hält er für ferngesteuert vom Ausland – von Amerika, England, Frankreich und natürlich Israel. „Wir haben sechzig Jahre lang unter Militärpräsidenten im Inneren dieser Gesellschaft gearbeitet“, sagt er schließlich. „Und wir werden nicht wegen ein paar Wochen Turbulenzen unser langfristiges Ziel einer islamischen Gesellschaft aus den Augen verlieren.“

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