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Lour Reed starb am 27. Oktober 2013 im Alter von 71 Jahren. Das Bild zeigt ihn bei einem Konzert in Berlin im Jahr 2007.

© dpa

Unser Blick auf die USA: Lou Reed, Obama und die verlorenen Illusionen

Nach dem Tod von Lou Reed und im Angesicht der NSA-Affäre: Beim Blick auf die USA dominieren gerade Trauer und Wut. Im Herzen allerdings sind wir doch alle Amerikaner. Oder wenigstens New Yorker.

Es war Lou Reed, der im Jahr 2008 Leonard Cohen in die Rock ’n’ Roll Hall of Fame einführte. Er selbst hatte dort bereits 1996 seinen Platz eingenommen. Lou Reed kam in Lederjacke, Leonard Cohen im Smoking zur Zeremonie, bei der Reed sagte, wie sehr er die Verse des kanadischen Poeten und Musikers bewundere. Der bedankte sich mit einer kleinen Rezitation: „Well my friends are gone and my hair is grey / I ache in the places where I used to play / And I’m crazy for love but I’m not coming on / I’m just paying my rent every day / In the tower of song.“

Am Sonntag ist Lou Reed gestorben, mit 71 Jahren. Cohens Worte finden ihre Bestätigung. Die Freunde sind nicht mehr da. Oder wir müssen damit rechnen, dass sie sich verabschieden, nach und nach. Bei Bob Dylan, der letzte Woche drei Konzerte im Tempodrom gab, fragt man sich das noch nicht. Bei Leonard Cohen, der auf die 80 geht, schon. Zuletzt nach seinem grandiosen Berliner Auftritt im August: Wie oft kann er das wiederholen? Kommt er wieder?

Als wir jung waren, starben die Rock-’n’-Roll-Helden wie die Fliegen. Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison. Viel später ging Kurt Cobain, dann Amy Winehouse. Mit ihrem Tod war die verdammte Zahl geboren, der „Club 27“. Lou Reed hätte sich da locker einreihen können, damals. So wild hat er gelebt, nichts ausgelassen, sich auf wirklich alles eingelassen, wovor unsere Eltern uns gewarnt hatten; und noch einiges mehr.

Aber sie sind geblieben, die Reeds, die Rolling Stones. Es gibt nicht so viele, die in diese Kategorie gehören. Dylan, Cohen, David Bowie. Wenn so einer geht, geht ein Teil von uns, unserer eigenen Geschichte. Denn es ist jetzt nicht mehr vorgesehen. Heutzutage werden die Menschen alt, oder? 70 ist das neue 60 – ein blöder Spruch, aber man glaubt gern dran. Und wer so viel übersteht wie Lou Reed, der hat noch viele Jahre vor sich.

Das ist der einfache Gedanke, die Grundidee des Rock ’n’Roll, die sich im Lauf der Jahrzehnte umgedreht hat: Diese Musik ist nicht mehr ein Killer junger Götter, sondern ein Anti-Aging-Programm. Ein Frischhalteelixier.

Mit Lou Reed verabschiedet sich noch etwas anderes. Er war eine Verkörperung von New York. Der hitzigen, geilen, gewalttätigen, drogenbesessenen, wild experimentierenden Metropole. Big Apple – aber ja! Lou Reed führte sich auf wie ein Adam von Coney Island, und die Eva gab er auch noch dazu, wenn ihm danach war. Apfel und Schlange, das passte zu dem Wesen, das mal glitzerte, mal auf macho-maskulin machte, das metrosexuell war, bevor man das Wort kannte. Über Lou Reed und Velvet Underground führte der Weg in Andy Warhols Factory, zum Design, zum Film, zur Bildenden Kunst, zur intellektuellen Boheme.

Und so, wie dieser New Yorker Rockmusiker und Performer war, so war auch einmal Berlin, oder wollte es sein, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, mit der Mauer im Rücken und der Gewissheit im Kopf, dass die Gegenwart endlos war. Zu der Zeit protestierte man hier wild gegen Reagan und US-Außenminister Haig, es ging um die Nachrüstung mit Raketen. Jetzt richtet sich die Empörung, wenn auch nicht auf der Straße und auch nicht militant, gegen die digitale Aufrüstung der USA, das Abhören von Handys, das Datenfischen.

Es sind seltsame Tage. Man trauert um einen Musiker, mit dem man aufgewachsen ist, irgendwie. Man trauert auch, eine ganze Weile schon, um die verlorenen Illusionen, die man sich gemacht hat, als Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde.

All das hängt insofern miteinander zusammen, als sich zeigt, wie sehr die USA unser Bezugssystem sind. Unsere Begeisterung und Bedrohung. Politisch, wirtschaftlich, kulturell. Technologisch sowieso: Das Internet ist ein Amerikaner. Die Firmen, die im Netz das Sagen haben, sind es auch, Apple, Google, Facebook, Microsoft.

Leonard Cohen schrieb nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking den Song „Democracy“, der sich an die USA richtet, „the cradle of the best and the worst“. Die Wiege des Besten und des Schlimmsten.

Das trieb auch Lou Reed um. Er hatte eine große Klappe und eine scharfe Zunge, er scheute sich vor nichts und niemandem. Über Edward Snowdens Enthüllungen äußerte er sich schockiert: dass ein so junger Mann an so viele geheime Dinge herankommen konnte. „Spricht das für unsere Sicherheitssysteme“, fragte sich Reed: „Es ist schockierend. Obama, ausgerechnet, setzt das fort, was George W. Bush gemacht hat.“

Lou Reed war ein kleiner Fürst der Finsternis. Aber in der Kunst sind das die Sensiblen, die Guten.

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