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Meinung: Unsere großen Nesthocker

Die neuen Spätauszieher sind typisch für unsere Gesellschaft Von Jörg von Irmer

Den Nesthocker, schreibt Harald Schmidt, erkennt man sofort: „Als ob er mental die Kuscheltiere am Kopfende mit rumschleppt. Als ob er permanent Bon Jovi aus der ersten selbst verdienten Stereoanlage hört.“

Für junge Erwachsene ist der Auszug aus dem Elternhaus und die damit verbundene Unabhängigkeit von den Eltern ein dramatischer Schritt. Es ist jedoch eine Entwicklungsaufgabe, die immer häufiger nach hinten verschoben wird. Viele junge Erwachsene beschließen heute, länger im Nest hocken zu bleiben – sie werden zu jenen Typen, die Harald Schmidt auf den ersten Blick zu erkennen glaubt.

Auffällig ist an der Entwicklung zweierlei: zum einen hat sich innerhalb der letzten 30 Jahre das durchschnittliche Auszugsalter (definiert als das Alter, zu dem die Hälfte der gleichaltrigen Personen ausgezogen ist) um etwa zwei Jahre nach hinten verlagert. Heute liegt es in etwa bei 21 Jahren für Frauen und 23 Jahren für Männer. Zum anderen sind diese jungen Erwachsenen, die später ausziehen, aber auch vermehrt in der Mittelschicht anzutreffen und nicht mehr nur in privilegierteren Familien.

Die Nesthockerproblematik wurde in der Vergangenheit vor allem als ein kulturelles und wirtschaftliches Phänomen untersucht. Nesthocker, so eine These, könnten zu den Verlierern der Leistungsgesellschaft gehören, weil sie die Grundbedingungen Selbstständigkeit und Flexibilität nicht mitbringen.

Unsere Studie unter der Leitung von Professorin Seiffge-Krenke hat dagegen vor allem die familiären Faktoren in den Vordergrund gerückt. Zentral für eine erwachsene Eltern-Kind-Beziehung ist der Prozess der Individuation. Dieser beschreibt eine grundlegende Umstrukturierung der Beziehung: weg vom Rollenverhalten als Eltern und Kind, hin zu einer Beziehung auf gleicher Augenhöhe, auf der sich nun zwei erwachsene Menschen begegnen. Dabei kommt es zu einem Gleichgewicht zwischen der Unabhängigkeit des „Kindes“ einerseits und dem Aufrechterhalten der Beziehung andererseits. Dieser Prozess läuft nicht ohne Konflikte ab.

Die Familienbeziehungen von Frühausziehern und Nesthockern unterscheiden sich schon während der Pubertät: Nesthocker werden in ihrer Unabhängigkeit von den Eltern erst später unterstützt und die Familienmitglieder berichten insgesamt über weniger Konflikte. Frühauszieher suchen außerdem schon früh außerhalb der Familie enge Beziehungen: 60 Prozent der Frühauszieher hatten bereits mit 16 Jahren einen Partner – aber nur 20 Prozent der späteren Nesthocker. Das zeigt, dass der konfliktgeladene Aushandlungsprozess, der zur Individuation dazugehört, und die Loslösung von den Eltern in vielen Nesthockerfamilien schon während der Pubertät behindert wird.

Eine weitere parallele Entwicklung der letzten Jahre ist, dass junge Erwachsene oft ohne große Einschränkungen im Elternhaus wohnen können. Damit stellt sich für heutige junge Erwachsene die Frage, weswegen sie überhaupt ausziehen und die ganzen Unbequemlichkeiten und Risiken des Alltags auf sich nehmen sollen. Sie können doch gut auch zu Hause wohnen bleiben und trotzdem ihr eigenes Leben leben. Nur das Führen von Partnerschaften kann dadurch erschwert werden. Welcher Erwachsene möchte schon gerne seine neue Eroberung in sein Kinderzimmer mitnehmen?

Aus psychologischer Sicht ist das Nesthocken jedoch nur bedenklich, wenn die erwachsenen Kinder von ihren Eltern lange und tiefgreifend emotional abhängig sind. Schließlich gibt es unvermeidliche ökonomische oder familiäre Bedingungen (zum Beispiel die Pflege der Eltern), die dazu führen, dass Kinder zu Hause wohnen bleiben.

In einem solchen Abhängigkeitsverhältnis werden sich Eltern und Kinder nicht auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Die Kinder bleiben Kinder, statt selber Eltern zu werden.

Wie sich das relativ neue Phänomen der Nesthockerei langfristig auswirken wird, ist noch offen. Auf jeden Fall scheint es aber zwei Entwicklungen voranzutreiben: die Überalterung der Gesellschaft und ihre Infantilisierung.

Der Autor ist Mitarbeiter am psychologischen Institut der Universität Mainz.

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