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Eine jüdische Beschneidungszeremonie in Budapest.

© dpa

Urteil zur Beschneidung: Religiöse Selbstbestimmung ist ein hoher Wert

Das Kölner Landgericht erklärt Beschneidungen von Kindern für strafbar. Das Urteil ist realitätsfern, meint Malte Lehming. Und es könnte verheerende Folgen haben für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft.

Das Grundrecht auf eine ungestörte Religionsausübung ist ein Menschenrecht. Auch Amerikaner kämpfen für dieses Recht, weil es ihrem Freiheitsverständnis und ihrer Gründungsgeschichte entspricht. Sie stellen es im Zweifel sogar über andere Werte und Ziele, wie etwa die staatliche Drogenbekämpfung.

Am 21. Februar 2006 fällte das Oberste US-Verfassungsgericht ein bedeutsames Urteil. Es ging um den Fall „Gonzales versus O Centro Espirita Beneficiente Uniao Do Vegetal“. Das ist eine Religionsgemeinschaft, zu deren Riten es gehört, einen halluzinogenen Tee zu trinken. Der nennt sich „hoasca“ und besteht aus Pflanzen, die in Brasilien wachsen. Deren Wirkstoff DMT indes fällt unter das Betäubungsmittelgesetz und ist an sich streng verboten. Religionsfreiheit kontra Drogenmissbrauch – was tun? Das mehrheitlich konservative Gericht entschied einstimmig, dass der „Religious Freedom Restoration Act“ stärker zu gewichten sei als das Drogenverbot. Seitdem darf der Hoasca-Tee offiziell getrunken werden.

„Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. „Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst oder die Vollziehung von Riten zu bekunden.“

Wird damit auch das Recht umfasst, einem neugeborenem männlichen Baby die Vorhaut abschneiden zu lassen? Das Landgericht Köln hat dies verneint. Es wertete das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit höher als das Recht der Eltern auf eine ungestörte Religionsausübung, wie sie zum Beispiel die Tora den Juden gebietet. Genesis 17: „Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden.“ In keinem Land der Welt sind Beschneidungen verboten. Das Kölner Urteil bildet in dieser Beziehung eine Ausnahme. Auch im Islam gehört das Beschneiden fest zur Tradition. Drei Viertel der amerikanischen Männer sind ebenfalls beschnitten, weltweit ist es jeder dritte.

Beschneidungs-Tourismus in Nachbarländer?

Sarkastisch formuliert könnte es den in Deutschland lebenden Juden durch das Kölner Urteil zum ersten Mal seit 1945 verwehrt werden, ein zentrales Element ihres Glaubens praktizieren zu können. Im „Dritten Reich“ wurden sie gelegentlich durch das Fehlen ihrer Vorhaut identifiziert, als Beschnittene also verfolgt – und hielten trotzdem an dem Gebot fest. Auch die rund vier Millionen Muslime, die in Deutschland leben, könnten in die Illegalität gedrängt werden oder müssten künftig die Mühsal eines Beschneidungs-Tourismus in ein Nachbarland auf sich nehmen. So viel zu den verheerenden praktischen Auswirkungen, die ein generelles Beschneidungsverbot hätte.

In seiner abstrakten Lesart freilich trifft das Urteil einen Punkt: Beschneidung ist eine Form der Körperverletzung, sie beeinträchtigt das Recht des Kindes auf Unversehrtheit. Würde sich heute eine religiöse Organisation gründen, die das Abschneiden beider Ohrläppchen ihrer neugeborenen Mitglieder als dogmatisch begründeten Ritus praktizieren möchte, würde sich dagegen wohl massiver gesellschaftlicher und juristischer Widerstand entfalten.

Doch genau an diesem Beispiel lässt sich der Unterschied illustrieren. Religiös begründete und gleichzeitig kulturell tradierte Formen von Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit haben durch ihre gesellschaftliche Akzeptanz einen besonders zu schützenden Wert. Beschneidung gefährdet nicht die Gesundheit eines Menschen, dass Beschnittene im Erwachsenenalter ihre Eltern verklagen, ist nicht bekannt. So ergreift das Kölner Urteil in einem abstrakt-absurden Sinn für Menschen Partei, die diese Parteinahme für sich ablehnen. In seinem positivistischen Rechtsverständnis ist es von der Realität entrückt und negiert alle negativen Folgen, beispielsweise für das gedeihliche Zusammenleben von Majoritäts- und Minoritätsgesellschaft.

Gottes Gebote stehen im Zweifel über denen der Menschen

Spott, Diskriminierung und Verfolgung gehören zu den Grunderfahrungen religiöser Menschen. Als Topoi finden sie sich bereits im Sagenkreis der antiken griechischen Mythologie. Antigone, die Tochter des Ödipus und der Iokaste, wird vom König Kreon verboten, ihren getöteten Bruder Polyneikes zu bestatten. Aber sie stellt ihr Gewissen über das Gesetz, gehorcht den Göttern mehr als der Obrigkeit. Folglich wird sie verurteilt und entgeht dem Hungertod im Verlies nur durch Selbstmord.

Gott und seine Gebote stehen für gläubige Menschen im Zweifelsfall über den Regeln, die Menschen aufstellen. Wenn der Obrigkeit Gebot nicht ohne Sünde befolgt werden kann, heißt es im „Augsburger Bekenntnis“ von 1530, „soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Dieser Geist durchzieht auch die sechs Thesen der „Barmer Theologischen Erklärung“ von 1934. Der Rechtsstaat darf vor religiös begründeter Besonderheit nicht kapitulieren, und im Regelfall ist die Schnittmenge aus religiösen Geboten und weltlichen Gesetzen in der westlichen Welt sehr groß. Aber religiöse Selbstbestimmung ist ebenfalls, auch in einer weitgehend säkularisierten Welt, ein hoher Wert.

Daher überrascht es nicht, dass Vertreter aller drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – gegen das Kölner Urteil Sturm laufen. Sie wittern in dem Abwehrreflex gegen die Beschneidungspraxis auch eine zeitgeistkonforme Religionsaversion. Diese kennzeichnet ein bewusst praktizierter Respektsentzug gegenüber den identitätsstiftenden und gesellschaftsprägenden Elementen von Religion. Als Symptom für eine Justiz, die solchen Belangen gegenüber kalt agiert, muss das Urteil in der Tat ernst genommen werden.

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