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Möge der weniger schlechte Kandidat gewinnen: Die Amerikaner sind mit beiden Kandidaten nicht glücklich.

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US-Wahlkampf: Möge der weniger schlechte Kandidat gewinnen

Amtsinhaber Barack Obama hat die US-Präsidentschaftswahl noch nicht verloren. Man muss aber langsam dem Gedanken Raum geben, dass der nächste amerikanische Präsident Mitt Romney heißen könnte.

Viele Deutsche stehen vor einem Rätsel. Neun Tage vor der US-Präsidentenwahl führt der Republikaner Mitt Romney in den nationalen Umfragen. Die Chancen ihres Lieblings Barack Obama auf eine zweite Amtszeit sinken mit jeder neuen Woche. Wie ist das möglich? Die Deutschen würden, wenn sie denn mitwählen dürften, zu 80 Prozent für ihn stimmen. Sind die Amerikaner verrückt geworden oder von Amnesie befallen? Aus europäischer Sicht ist kaum nachvollziehbar, dass eine Mehrheit den Konservativen vier Jahre nach dem Ende der Regierung von George W. Bush schon wieder eine neue Chance geben möchte.

Die meisten Erklärungsversuche führen zur unseligen Fernsehdebatte vom 3. Oktober, bleiben aber unbefriedigend. Gewiss doch, Obama, der vermeintliche Rockstar medialer Inszenierung, sah in diesem ersten Rededuell seltsam blass aus gegen Romney, den viele bis dahin für einen ziemlich humorlosen und trockenen Zahlenfuchser gehalten hatten. Der Republikaner machte den Eindruck, als habe er weit mehr Freude an diesem argumentativen Kräftemessen. Er war besser vorbereitet, redete ruhig und sachlich.

Obama wirkte müde, sah selten in die Kamera oder seinen Kontrahenten direkt an, hielt den Blick gesenkt – nur wohin? Die Fernsehbilder ließen das kaum erkennen, sie zeigten die meiste Zeit die Oberkörper der Kandidaten. Doch Obama schaute nicht betreten zu Boden, sondern machte sich Notizen, wenn Romney redete. Denn der vollzog einen atemberaubenden Schwenk bei einer Reihe von Positionen, etwa seiner Steuerpolitik. Bis zu diesem Tag hatte er stets versprochen, alle Steuerklassen zu entlasten. Nun versicherte er: Die Abgaben der Reichen an den Staat würden unter ihm keinesfalls sinken.

Nur: Warum konnte eine einzige TV-Debatte, in der Romney gut abschnitt und Obama schlecht aussah, eine neue Dynamik einleiten? Obama hatte den September hindurch in den Umfragen zugelegt. Er nahm kräftigen Rückenwind aus dem Parteitag der Demokraten mit. Romney war das beim Treffen der Republikaner nicht gelungen.

Wenn eine Fernsehdebatte reicht, um Romney auf die Siegesstraße zu bringen, führt das im Übrigen nur zur nächsten Frage: Müsste es dann nicht auch umgekehrt möglich sein, die Dynamik im nächsten Rededuell wieder zu wenden? Warum konnte Obama den Trend mit den zwei folgenden Debatten nicht umkehren? Nach dem Urteil der Medien war er der Sieger der Duelle Nummer zwei und drei. Insgesamt steht es also zwei zu eins. Müsste er dann nicht heute führen? Die Umfragen kannten jedoch den ganzen Oktober hindurch nur eine Richtung: aufwärts für Romney.

Warum die meisten Amerikaner Obama nicht wiederwählen wollen

Bei genauem Hinsehen ist das nur die halbe Wahrheit. Die Psychologie der Wählerwünsche ist in diesem ungewöhnlichen Wahljahr vertrackter. Die simple Mechanik, wonach die Verluste des einen die Gewinne des anderen sind, bewahrheitet sich nicht. Die Amerikaner wollen mehrheitlich weder Obama noch Romney. Keiner von beiden hat in diesem Wahljahr jemals 50 Prozent der Wähler hinter sich bringen können. Beide finden nur bei einer Minderheit Zustimmung, im besten Fall 48 Prozent.

Die meisten Amerikaner wollen Obama nicht wiederwählen, das weisen die Erhebungen seit über einem Jahr aus. Er hat die Wirtschaftskrise nicht verschuldet, sondern von Bush geerbt. Aber ihn hatten die Bürger 2008 gewählt, damit er das Land zu Wachstum und Vollbeschäftigung führt. Sie gaben ihm eine für US-Verhältnisse große Mehrheit. Er hat die Erwartungen nicht erfüllt.

Um den Präsidenten tatsächlich abzuwählen, brauchen die Bürger jedoch eine Alternative, die sie bevorzugen. Romney kann die Mehrheit bisher nicht davon überzeugen, dass er diese Person ist. Auch er erreicht keine 50 Prozent der Wähler.

Die Wahl entscheidet sich also nicht an der Frage, wen von beiden die Mehrheit lieber haben möchte. Einen solchen Kandidaten gibt es 2012 nicht. Die jeweilige Umfragelage richtet sich vielmehr danach, wer von beiden die größeren Zweifel auslöst. Der jeweils andere liegt vorne – aber nicht weil er positive Gefühle für seine Person und sein Programm weckt. Sondern weil der Konkurrent gerade noch mehr Bedenken auf sich zieht.

Obama und Romney haben diese Konstellation verinnerlicht und richten ihre Wahlkampfstrategie daran aus. Sie werben in auffallend geringem Maß mit den eigenen Stärken. Was sie nach einem Sieg konkret tun wollen, um das Wachstum anzukurbeln, die Arbeitslosenrate zu reduzieren, den Schuldenberg abzutragen oder die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, bleibt nebulös. Sie werfen mit Schlagworten um sich: billige Energie, niedrige Steuersätze, Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Es fehlen jedoch die Verben und die Details, die daraus einen nachvollziehbaren Plan machen würden.

Beide Kandidaten verlegen sich auf das "Negative Campaigning"

Möge der weniger schlechte Kandidat gewinnen: Die Amerikaner sind mit beiden Kandidaten nicht glücklich.
Möge der weniger schlechte Kandidat gewinnen: Die Amerikaner sind mit beiden Kandidaten nicht glücklich.

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Stattdessen verwenden sie den Großteil ihrer Wahlkampfreden auf Warnungen, was dem Land droht, wenn der Gegner den Kampf um das Weiße Haus gewinnt. Auch ihre viele Millionen Dollar teuren Fernsehwerbespots preisen zum Großteil nicht das eigene Programm an, sondern verleumden den Kontrahenten. In einem Gespräch mit dem Rolling Stone ließ sich Obama zuletzt sogar dazu hinreißen, Romney als „bullshitter“, als Dummschwätzer, zu bezeichnen.

Obama hatte zunächst mehr Erfolg mit diesem „Negative Campaigning“. Romney musste sich in den ersten Monaten des Wahljahres dem innerparteilichen Wettbewerb um die Kandidatur stellen. Die Bewerber versuchten, sich an Treue zur Parteiideologie zu übertrumpfen, drängten sich bei Themen wie dem Abtreibungsverbot oder der Ablehnung der Homo-Ehe gegenseitig weiter nach rechts und bestätigten so das Zerrbild, das Obama zeichnete: Die Konservativen seien zu einer Partei der radikalen Ansichten verkommen.

Mit dieser Strategie konnte der Präsident den Wahlgang zunächst offen gestalten. Das war ein großer Erfolg für ihn. Eigentlich hatte er das Rennen schon vor Beginn des Wahljahres verloren. Im Herbst 2011 antworteten 75 Prozent auf die Kernfrage der Demoskopie, ob Amerika „on the right or wrong track“ sei, das Land bewege sich in die falsche Richtung. Fast das ganze Jahr hindurch überwogen die negativen Bewertungen Obamas. Mit solchen Zahlen gewinnt man keine Wahl. Der Präsident machte diesen Nachteil jedoch mit seiner offensiven Strategie wett. Die Stimmung auf beiden Parteitagen begünstigte Obama. Beim Treffen der Republikaner in Tampa war unübersehbar, dass Romney keinen Enthusiasmus auslöst. Er bekam höflichen Applaus. Viel lauter war der Beifall, wenn die Redner etwas Negatives über Obama sagten. Der Hass auf den Gegner wirkt mobilisierender als der Stolz auf den eigenen Kandidaten.

Bei den Demokraten war mehr Begeisterung für die eigene Sache zu spüren. Sie sind erleichtert, dass die Wahl noch nicht verloren ist. Die Siegeszuversicht sprang auf Anhänger im ganzen Land über. Obama errang Anfang Oktober einen Vorsprung von 3,5 Prozentpunkten in den Umfragen.

Der Oktober kann ein grausamer Monat sein. Die „October Surprise“ ist ein sprichwörtliches Phänomen: die Wende aufgrund eines unerwarteten Ereignisses. 2012 war dies der Verlauf der ersten TV-Debatte. Vielfältige Spekulationen über die Gründe für Obamas enttäuschendes Abschneiden kursieren. Er sei übermüdet gewesen und habe Denvers Lage auf 1600 Meter Höhe schlecht vertragen, sagen manche. Andere verweisen auf die Schüsse an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei. Der Präsident habe seine Vorbereitung auf die Debatte mehrfach unterbrechen müssen, um Krisentelefonate zu führen. Romney habe ungestört für das Rededuell üben können.

Was auch immer die Ursache war – die Folgen sind irreversibel. Die entscheidende Frage lautet: Wer zieht mehr Zweifel auf sich? Nach der Debatte drehte sich die Betrachtung. Romney hatte souverän gewirkt. Vielleicht ist er doch nicht so schlecht, wie die Demokraten behaupten, überlegten viele Wähler – und geben ihm die Chance des zweiten Blicks. Die Bedenken richteten sich nun gegen Obama. Deshalb verlor er in den Folgewochen an Boden. Auch mit dem guten Abschneiden in den nächsten beiden Debatten konnte er die Aura der Unangreifbarkeit nicht zurückgewinnen.

Romney manövriert geschickt Richtung Zentrum

Möge der weniger schlechte Kandidat gewinnen: Die Amerikaner sind mit beiden Kandidaten nicht glücklich.
Möge der weniger schlechte Kandidat gewinnen: Die Amerikaner sind mit beiden Kandidaten nicht glücklich.

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Diese Dynamik wird durch Romneys überraschenden Drang ins Zentrum verstärkt. Anfangs gab er sich rhetorisch als Rechter, um die republikanische Basis zu gewinnen. Nun passt er seine Positionen an die moderate Mitte an. In der Steuerpolitik sollen die Reichen doch nicht geschont werden. In der Außenpolitik hatte er Iran zuvor mit Krieg gedroht. Jetzt lobt er die Diplomatie. China ist kein Gegner mehr, sondern ein Partner.

In normalen Zeiten wären solche Positionswechsel riskant. Romney hat den Ruf, ein „Flip Flopper“ zu sein, der seine Meinung opportunistisch wechselt. Weil er die Neupositionierung jedoch zu einem Zeitpunkt vollzieht, zu dem sich die Zweifel gegen den Präsidenten richten, sieht es so aus, als habe Obama die Verteufelung Romneys im Wahlkampf maßlos übertrieben. Ist Romney vielleicht ein akzeptabler Präsident?

Neun Tage vor der Wahl sind die Umfragedaten widersprüchlich. Im Kampf um die Stimmenmehrheit im Land („popular vote“) liegt Romney vorn. Präsident wird aber, wer die meisten Wahlmänner erhält. Dafür wird in jedem Staat einzeln ausgezählt, und der Sieger bekommt alle Wahlmänner dieses Staats. In dieser Berechnung führt Obama, wenn auch knapp. Wenn aber der Trend weiter zugunsten Romneys wirkt, kann die Mehrheit der Wahlmänner kippen.

Die Welt sollte sich allmählich mit der Aussicht vertraut machen, dass Amerika einen neuen Präsidenten Romney bekommen kann. Was würde sich dann ändern? Die gravierenden Unterschiede liegen nicht in der Außenpolitik. Europa muss sich auf keinen anderen Umgang mit der Supermacht vorbereiten. Auch Kriege oder eine Ausweitung der gezielten Tötungen mit Drohnen folgen nicht automatisch. Romney ist ein Technokrat ohne tief sitzende ideologische Überzeugungen. Er richtet sich danach, was nach seiner Analyse im nationalen Interesse liegt.

Christoph von Marschall ist USA-Korrespondent des Tagesspiegels. Er hat mehrere Bücher über Barack Obama geschrieben, u.a. „Was ist mit den Amis los?“ (Herder).
Christoph von Marschall ist USA-Korrespondent des Tagesspiegels. Er hat mehrere Bücher über Barack Obama geschrieben, u.a. „Was ist mit den Amis los?“ (Herder).

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Die großen Herausforderungen betreffen die Finanz- und Steuerpolitik. Die USA sind mit über 16 Billionen Dollar verschuldet, das entspricht mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und übersteigt die Werte für die Euro-Zone. Zählt man die Schulden der Kommunen und Einzelstaaten hinzu, nähern sich die USA griechischen Verhältnissen. Die Frage ist also: Wer bezahlt den Schuldenabbau: die Reichen durch höhere Steuern, wie Obama das propagiert? Oder die Ärmeren durch Kürzung staatlicher Leistung, wie die Republikaner fordern? Das hängt nicht allein vom Ausgang der Präsidentenwahl ab, sondern ebenso vom Ergebnis der parallelen Kongresswahl. Ein Dreifach-Sieg – republikanischer Präsident, republikanisches Abgeordnetenhaus, republikanischer Senat – würde einen Präsidenten Romney unter Druck setzen, den versprochenen Kurswechsel zu vollziehen: weniger Solidarität, jeder ist seines Glückes Schmied. Wenn die Demokraten ein oder zwei dieser Machtpositionen gewinnen – das Weiße Haus oder den Senat – ließe sich das als Auftrag interpretieren, Kompromisse zu suchen.

Die Kernaufgabe Amerikas ähnelt der in Europa: Sparen, ohne eine Rezession heraufzubeschwören. Die droht den USA nach momentaner Beschlusslage. Die von Bush eingeführten, befristeten Steuererleichterungen sollen am Jahresende auslaufen, was den Bürgern Kaufkraft nimmt. Der Staat muss bei Militär und Sozialausgaben kräftig kürzen, was ebenfalls Kaufkraft aus dem Markt nimmt. Und die Betriebe werden belastet, weil der ermäßigte Satz für die Sozialabgaben ausläuft. Wenn alle drei Maßnahmen greifen, würden der US-Wirtschaft 2013 etwa 3,5 Prozent des BIP entzogen. In den USA nennt man das „Fiscal Cliff“. Der Kongress wird Wege finden, das zu vermeiden. Aber das heißt zugleich: Die Budgetsanierung würde verzögert.

Der nächste Präsident ist nicht zu beneiden. Welche Ironie wäre das: Amerika wählt einen republikanischen Präsidenten, weil der Wachstum und Schuldenabbau verspricht. Doch stattdessen bringt sein erstes Amtsjahr eine Rezession.

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