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Meinung: Utopie oder Lebenslüge?

Die Debatte über Atomstrom wird wieder einsetzen

Soll, wieder einmal, am deutschen Wesen die Welt genesen? Auf dem jüngsten G-8-Gipfel in St. Petersburg haben sich sämtliche Teilnehmer dafür ausgesprochen, auch in Zukunft auf den Atomstrom zu setzen – außer den Deutschen. Die Bundesrepublik 20 Jahre nach dem Unglück von Tschernobyl: Anführer der Utopisten oder Schlusslicht der Realisten? Dazu nun einige skeptische Vermutungen.

Vermutung Nummer eins: Der deutsche „Atomausstieg“, mit der Industrie von der Regierung Schröder/Fischer (minus Trittin) ausgehandelt, war von Anfang an keine definitive Lösung des Atomproblems, sondern ein dilatorischer Formelkompromiss zur einstweiligen Befriedung energiepolitischer Glaubenskriege und Illusionen. Der Ausstieg betrifft, wenn dann die Restzeiten der gegenwärtigen Kraftwerke (oder die gegenwärtig dominierenden parlamentarischen Sperrminoritäten) abgelaufen sein werden, eine veraltete Reaktorlinie – nicht das Thema Atomstrom insgesamt.

Vermutung Nummer zwei: Ganz gewiss müssen alle Möglichkeiten des Energiesparens ausgeschöpft werden – und sie sind groß. Sie sind aber weder ohne Kosten noch ohne Konkurrenzprobleme mit anderen Volkswirtschaften zu haben und auch nicht ohne gesellschaftliche Widerstände. Vor allem aber: Die Sparmöglichkeiten sind so wenig unbegrenzt wie die konventionellen Energievorräte. Und auch die erneuerbaren Energiequellen sind weder grenzen- noch problemlos zu haben. Selbst wenn die (bislang) reichen Staaten mit dem Energiesparen Ernst machten, wird die Einbeziehung von immer mehr Schwellen- und Entwicklungsländern in die Weltwirtschaft und deren steigende Energienachfrage die Sparerfolge im Westen übertreffen.

Vermutung Nummer drei: Noch schwört die große Koalition auf den „Atomausstieg“; das sichert aber nur deren Zusammensetzung auf Zeit, nicht unsere Energieversorgung auf Dauer. Bis es wirklich zum Schwur kommt, sind noch gut ein, zwei Regierungswechsel drin – und wird noch viel Atomstrom aus dem Ausland importiert, werden dort überdies noch viele Atomkraftwerke gebaut, wer weiß nach welchen Standards – gewiss nicht nach deutschen.

Was folgt daraus? Besser als eine letztlich illusionäre und im Grunde auch unehrliche „Ohne mich“-Rhetorik wäre für Deutschland eine Energie- und Forschungspolitik, die noch keine Option aus dem Energie-Mix kategorisch ausschließt – weder die konventionellen noch die alternativen noch die atomaren Quellen – , die aber dafür beizeiten strenge Standards setzt. Was hindert uns daran, die Atomforschung und -entwicklung auf den inhärent sicheren Reaktor und die Fusionstechnik zu begrenzen, aber dann eben auch zu konzentrieren?

Das Entsorgungsproblem? Gewiss, aber solange wir die Probleme des Verbrauchs fossiler Energieträger unrevidierbar in den Weltraum „entsorgen“ (mit allen gefährlichen Klimakonsequenzen), wirkt dieser Hinweis nicht restlos glaubwürdig. Möglicherweise lassen sich sogar atomare Zwischenlager eher beherrschen als die in den Weltraum geblasenen Emissionen.

Wie komme ich nun dazu, so zu denken, da ich doch nach Tschernobyl gemeint hatte, die Kernkraft hätte keine zu verantwortende Zukunft mehr? Ich habe die Hoffnung verloren, die Menschheit werde angesichts ihrer nach weltweiter Verallgemeinerung strebenden Ansprüche ihren Energieeinsatz auf irgendeine Weise jemals risikolos gestalten können – ohne Gefahren bei der Gewinnung, ohne ökologische Lasten beim Verbrauch, ohne fatale strategische Abhängigkeiten von den politisch explosiven Ölstaaten, ohne weltweite, auch soziale Verteilungskämpfe um Energie. Denn das einzige ernste Umwelt- und Schöpfungsrisiko ist nun einmal der unersättliche Mensch selber. Solange man Risiken nicht grundsätzlich ausschalten kann, muss man sie streuen. Und je weiter man sie – kontrolliert! – streuen kann, desto besser.

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