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Verhältnis zu Polen: Was am Anfang stand

Angela Merkels Danziger Rede ist eine große Geste gegenüber den Opfern Deutschlands.

Der Wahlkampf der Bundeskanzlerin zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht stattfindet. Aber keiner soll ihr nachsagen, sie vergäße auch nur eine Stunde, was ihre Pflichten sind. Angela Merkel, die als Zonenkind 40 Jahre länger als viele notorische westdeutsche Besserwisser die Folgen der Teilung des Landes zu ertragen hatte, weiß nicht nur genau, was nationale Verantwortung ist. Sie kann auch die historische Dimension eines Geschehens erfassen und reflektieren. Manchmal hilft ihr dabei sogar, dass sie eine schlechte Rednerin ist – die Zuhörer konzentrieren sich auf den Inhalt und sind nicht durch Rhetorik abgelenkt.

In der Stunde des Gedenkens an den deutschen Überfall auf Polen vor 70 Jahren hat sie auf der Danziger Westerplatte eine bedeutende, eine große Rede gehalten. Vermutlich wird man sich später einmal an diese Ansprache als jene erinnern, in der die deutsche Alleinschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht „den Nazis“ oder der „braunen Diktatur“ oder irgendwelchen anderen Teilmengen der deutschen Bevölkerung zugewiesen wurde, sondern in der immer wieder von „wir“ gesprochen wurde, wenn es um die Last der Verantwortung ging.

Merkel erinnerte daran, dass es die deutsche Besatzungsmacht war, die Polen „unsägliches Leid“ zugefügt habe und dass am Ende eines „von Deutschland“ entfesselten Krieges 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten. Durch die viermalige, fast schon rituelle Wiederholung der Einleitungsformel „Ich gedenke“ in der Trauer über die Opfer von Holocaust, Krieg, Widerstand, Hunger, Kälte und Krankheit verband sie diese 60 Millionen Opfer in der beschwörenden Festlegung, dass dies alles durch Schuld Deutschlands geschah und dass dieses demokratische Nachkriegsdeutschland niemals versuchen würde, seine Rolle in der Geschichte umschreiben zu wollen.

Ganz ähnliche Worte hatte Angela Merkel wenige Tage zuvor schon in Berlin vor Vertriebenen am „Tag der Heimat“ gefunden. Dort bekundete sie, dass die Geschichte von Flucht und Vertreibung alle Deutschen anginge, aber dass „wir uns der Verantwortung für das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte“, des „von Deutschland begonnenen Krieges und der Verbrechen des Nationalsozialismus“ bewusst seien. Dass sie in Berlin wie in Danzig mit gleicher Zunge sprach, macht sie besonders glaubwürdig. Ihre polnischen Zuhörer werden auch mit Bewegung vernommen haben, wie sie der Gewerkschaft Solidarnosc und dem polnischen Papst Johannes Paul II. für deren Beitrag zur Befreiung Europas dankte.

Bundeskanzler Willy Brandt wurde nach seinem Kniefall im Dezember 1970 vor dem Mahnmal für die von Deutschen ermordeten Bewohner des Warschauer Ghettos gefragt, ob er diese Geste der Demut geplant habe. Egon Bahr erinnert sich an seine Antwort so: „Ich hatte plötzlich das Gefühl, stehen reicht nicht.“

Es war nicht zu erfahren, ob Angela Merkel diesen Satz kennt. Auf der Westerplatte hat sie genau in diesem Sinne gesprochen.

Gerd Appenzeller

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