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Verkehr und Tempo 30: Für und nicht gegen die Bürger

Die angedrohte Schleichfahrt mit Tempo 30 wird zum Kampfbegriff gegen die Neuerfindung des innerstädtischen Verkehrs. Vor allem, weil viele Berliner den Senat verdächtigen, es werde ihnen schon jetzt täglich klammheimlich die Lust am Auto ausgetrieben.

Nie war so viel Aufruhr um ein simples Schild. Wochenlang tobte der Streit, 18 000 Autos rollten beim Protestkorso durch Berlin, weil der rot-grüne Senat auf sechs Kilometern Avus Tempo 100 verordnet hatte. Das war 1989. Heute gilt auf der gesamten Stadtautobahn 80 – kaum jemanden regt das auf.

Renate Künast, die grüne Spitzenkandidatin für die Wahl im Herbst 2011, wird sich erinnern: Sie war damals Fraktionschefin. Sie weiß, wie sich die Zeiten ändern, aber auch, wie Themen so viel Fahrt aufnehmen können, bis es eine Partei aus der Kurve trägt. Der Absturz der Grünen-Bundespartei nach der fatalen Benzinpreisparole von fünf Mark pro Liter war traumatisch. Das macht vorsichtig – immerhin treibt derzeit kaum etwas die Menschen mehr um als der Berliner Verkehr. Tempo 30, das die Berliner Grünen flächendeckend propagieren, hat alles Potenzial, die Stadt zu spalten.

Dabei sind die Fahnenschwinger der Utopie auch in der SPD zu finden. Berlins Verkehrssenatorin Junge-Reyer hat Sympathien für eine Regelgeschwindigkeit 30 deutlich gemacht; selbst der Beirat des CSU-geführten Bundesverkehrsministeriums schlägt eine Abkehr von Tempo 50 vor. Doch es geht um viel mehr: um die Neuerfindung der Stadt der Zukunft – und die Angst vor Gängelung. In Berlin ist die Revolution schon auf dem Weg. Im gerade vorgelegten Verkehrskonzept 2025 werden Autos die klaren Verlierer sein: Berlin soll fußgängerfreundlichste Metropole Europas werden, mit Vorrang für den öffentlichen Nahverkehr und für Radler. Ähnliches formulierte schon 1994 CDU-Umweltsenator Volker Hassemer – ernst nahmen ihn damals nur wenige. Modellstadt ist Berlin übrigens schon jetzt: In keiner deutschen Stadt ist der Anteil des Autos am Gesamtverkehr so gering, die Zahl der Radler in der Innenstadt so stark gewachsen. Vor allem dort haben sich jüngere Menschen vom Auto verabschiedet.

Warum die Aufregung? Schließlich gilt in Berlin schon jetzt in 75 Prozent aller Straßen ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern – allseits akzeptiert zum Schutz von Kindern oder zur Lärmreduzierung. Es ist das Misstrauen gegenüber einer Revolution von oben, die unten ihre Opfer hat, und Tempo 30 nur das Synonym für einen Vertrauensverlust gegenüber der politischen Klasse. Die angedrohte Schleichfahrt wird zum Kampfbegriff vor allem, weil viele Berliner den Senat verdächtigen, es werde ihnen schon jetzt täglich klammheimlich die Lust am Auto ausgetrieben, durch Ampel-Schikanen und Straßenverengungen. Die rot-rote Koalition streitet um den Weiterbau der Stadtautobahn A100 – doch der normale Berliner wäre froh, wenn er angesichts so vieler Staus und Baustellen überhaupt Tempo 30 schaffte. Dass Berlin im Prinzip einen hervorragenden öffentlichen Nahverkehr besitzt, kann all jene nicht trösten, die täglich vergeblich auf Bus oder S-Bahn warten. Wenn der Radverkehr gefördert wird, hilft das auch nicht den Beschäftigten, die in einer Stadt von der Größe des Ruhrgebiets das Auto für die Arbeit brauchen, oder Eltern, die es ohne Wagen nicht schaffen, ihre Kinder zur Musikschule oder zum Arzt zu bringen.

Mobile Stadt – das ist die Vision: mit sauberer Luft, Elektroautos und vielen Jobs in der grünen Ökonomie. Das will der Regierende Bürgermeister Wowereit, das verspricht Herausforderin Künast. Darüber sprechen, was unausweichlich geschehen muss für eine lebenswerte Stadt, in der sich weder Autofahrer gemobbt noch Radler diskriminiert fühlen, ist die Aufgabe. Wer ohne die Wähler plant, ob SPD oder Grüne, kann schnell überrollt werden.

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