zum Hauptinhalt

Meinung: Versteckte Mehrheit

Die Bundestagswahl war kein Votum gegen Agenda 2010 und Hartz IV

Ist Deutschland reformfeindlich? SPD, Grüne und Ultralinke haben bei der Bundestagswahl die Mehrheit der Stimmen erhalten. Sie könnten, zumindest theoretisch, regieren. Das wird auch im Ausland konstatiert. Entsprechend groß ist die Sorge vor einem Stillstand. Die Botschaft der Wahl sei eindeutig, heißt es in einem spöttischen Kommentar der ungarischen Zeitung „Magyar Hirlap“: Den Deutschen „geht es noch nicht schlecht genug“. Doch steckt in einer linken Mehrheit auch automatisch eine Mehrheit gegen Reformen?

Im internationalen Vergleich hat Deutschland einen Nachholbedarf an Brutalitäten. Gerhard Schröder, Tony Blair und Bill Clinton traten einst gemeinsam auf als die Vertreter eines neuen, eines dritten Weges. Das Schlagwort hieß Modernisierung. Das Heil sollte jenseits sozialstaatlicher Ausuferung und kapitalistischer Zügellosigkeit gesucht werden. Doch die zur Schau gestellte Einigkeit täuschte. Clinton und Blair traten als Erben von Ronald Reagan und Margaret Thatcher an. Die dreckige Arbeit war bereits erledigt. Briten und Amerikaner hatten die Zumutungen hinter sich.

Schröder dagegen, als Nachfolger Helmut Kohls, musste selbst brutal werden und seinen Landsleuten erklären, dass mit den Zumutungen zu lange gewartet worden war. Gewissermaßen als Abschlagszahlung auf die Erfordernisse präsentierte er dann seine Agenda 2010 und Hartz IV. Die fielen zwar im Vergleich zu den drakonischen Reformen à la Reagan und Thatcher moderat aus, doch der Widerstand, von den Montagsdemos bis zu den verlorenen Landtagswahlen für die SPD, war beachtlich. Diesem Widerstand verdanken die Ultralinken einen Großteil ihrer Existenz.

Und kein Zweifel: Lafontaine und Gysi trieben Schröder in die Enge. Plötzlich klang das Wort „Reform“ negativ. Man las Geschichten über Hartz-IV-Empfänger, die sich aus Verzweiflung das Leben nahmen. Das färbte auch auf Angela Merkel ab. Ihr fehlte am Ende der Mut, Reformen als etwas Positives statt Unabwendbares darzustellen. Sie wirkte wie getrieben vom Wahn einer Krise, aus der das Land gesteuert werden müsse. Ansporn, Optimismus, Vision: All das kam bei ihr nicht vor.

So viel Angst ging und geht an der Realität vorbei. Das Land mag, oberflächlich auf die Parteien geschaut, links geworden sein. Aber es bleibt reformfreundlich. Kurz vor der Wahl veröffentlichte der „Spiegel“ eine Umfrage. Demnach glauben fast drei Viertel der Bürger (73 Prozent), dass Deutschland durch weitere Reformen zu alter wirtschaftlicher Stärke zurückfinden kann. Die Reformbereitschaft, heißt es zusammenfassend, sei erstaunlich hoch.

Wer glaubt, eine linke Mehrheit belege, die Politik sei mit Agenda 2010 und Hartz IV auf unzumutbare Abwege geraten, irrt. Denn die allgemeine Stimmung spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Parlaments wider. Konservativ geschätzt würden ein Drittel der SPD-Parlamentarier und die Hälfte der Grünen weitere Reformen auf jener Linie mittragen, die durch Agenda 2010 und Hartz IV eingeschlagen wurde. Zusammen mit CDU und FDP ergibt das eine satte Mehrheit. Das Hauptproblem jetzt ist, dass sich diese Mehrheit nur schwer in eine Regierungsmehrheit übersetzt. Wohin die Reise geht, wissen die Deutschen, nur der Kapitän fehlt noch.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false