zum Hauptinhalt
Bald geht's los: Das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro.

© AFP

Vier Wochen bis zur WM 2014: Die Stille nach dem Schuss

Besser wäre der Aufschrei des schieren Glücks – am liebsten nach einem Siegtor beim WM-Finale am 13. Juli. Bald geht sie los, die ganz große Fußball-Show. In Brasilien, wo auch die Götter spielen.

Noch 29 Tage. Dann geht es los. Um 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit beginnt am 12. Juni in São Paulo wieder der helle, herrliche Wahnsinn. Mit dem Auftaktspiel Brasilien–Kroatien. Der fünffache Weltmeister und Gastgeber dieser 20. Fußball-WM wird von 200 Millionen Landsleuten auf den Titel eingeschworen. Da hat ein Außenseiter nichts zu verlieren, er kann nur gewinnen. Zumal die Brasilianer als die geborenen oder selbsterkorenen Fußballgötter auch noch den „Fluch von Maracana“ vertreiben müssen. Spätestens im Endspiel am 13. Juli in Rio de Janeiro.

1950 hatte Brasilien die WM schon einmal zu Hause, und statt Halbfinale und Finale gab es eine Endrunde der letzten, besten vier. Brasilien hatte vor dem letzten Spiel bereits die Schweden mit 7:1 und die mitfavorisierten Spanier mit 6:1 vom Platz gefegt, virtuos und furios, wie es Augenzeugen beschrieben. Vor dem Gewinn des Weltpokals trafen sie nur noch auf den Nachbarn Uruguay, der die Schweden mit Ach und Glück 3:2 besiegt und gegen Spanien ein 2:2 ertrotzt hatte. Den Brasilianern reichte gegen die „Urus“ im letzten Spiel im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro also bereits ein Unentschieden.

Selbst die Anhänger Uruguays hatten ihre Mannschaft längst aufgegeben, es waren offenbar verschwindend wenige von ihnen noch zur entscheidenden Partie in die mit angeblich 199 854 Zuschauern gefüllte Riesenarena des Maracana-Stadions gekommen. Denn als nach der brasilianischen 1:0-Führung in der zweiten Halbzeit überraschend der Ausgleich fiel und Uruguays rechter Außenstürmer Alcides Ghiggia dann elf Minuten vor Schluss aus spitzem Winkel das 2:1 erzielte, soll unter den zweihunderttausend, der größten Kulisse, die ein Fußballspiel jemals hatte, eine bis heute legendäre Totenstille geherrscht haben. Ghiggias Tor: für alle Fußballgläubigen ein Gottesurteil. Uruguay, das immerhin die allererste WM 1930 im eigenen Land gewonnen hatte, war wieder Weltmeister und das Maracana eine Kathedrale des stummen Entsetzens.

Fußball ist alles Mögliche. Rausch, Religion, Geschäft, Leidenschaft, ein Riesenzirkus, Show, Komödie, Tragödie, auch Schmiere. Sport, das sowieso. Doch im besten Falle: mitreißende Spielkunst. Marco Reus, 2014 der schnellste Mann im Sturm des deutschen WM-Teams, hat eine Menge Tattoos. Auf seinem schmalen linken Oberarm steht auf Englisch: „The biggest adventure you can take is to live your dreams.“ Der Satz stammt, leicht verkürzt, von Oprah Winfrey, der amerikanischen Talk-Queen, übrigens aus dem Jahr 2002, in dem die Deutschen letztmals (und erstmals gegen die Brasilianer) in einem WM-Finale standen.

Die Stille aus dem Maracana-Stadion soll sich auf das ganze Land gelegt haben

Träume und Schäume, das Platzen gehört dazu. Die Stille im Maracana-Stadion soll sich von dort über den ganzen Fußballkontinent Brasilien gelegt haben, weil sie durch alle Radios drang. Vier Jahre später, beim wirklich gewordenen Wundertraum von Bern, war dann schon das Fernsehen dabei. Auch ich.

Das diesmal aus Millionen deutschen Kehlen bejubelte Mirakel trat am 4. Juli 1954 sechs Minuten vor Schluss des Finales durch Helmut Rahns Schuss von der rechten Strafraumgrenze ins lange, immer länger werdende Eck des ungarischen Torhüters Gyula Grosics ein. Es ist dieses unausrechenbar Jähe, das am Fußball über alle Technik und Taktik im Kern so fasziniert. Der magische Moment, in dem der Ball auf einmal im Netz ist. Für die erregten Fans und die erfolgreichen Spieler eine Art, ja, von: Orgasmus. Eine Explosion angestauter Hoffnungen, Begierden, Träume. Oder ein kleiner Tod, ein symbolischer Mord: Wenn auf der Verliererseite mit einem Schuss und Schlag alle Hoffnung stirbt.

1954 - da waren "wir" Weltmeister

Beim Eishockey oder Handball fallen viel mehr Tore, beim Tennis oder Basketball gibt es viel mehr Punkte. Beim Fußball aber passiert im Normalfall die meiste Zeit des Spiels (noch) nichts Zählbares. Oft geschieht das Entscheidende dann in wenigen Sekunden, eine Flanke und ein Kopfstoß, ein tödlicher Pass, eine Körperdrehung. Wie der Punch, der Knockout beim Boxen. Es ist, im Rahmen des Rasensports, ein Triumph des Schocks, den die moderne Kunst vor 100 Jahren im Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus zum neuen Prinzip gemacht hat, und es folgt einer Dramaturgie der Plötzlichkeit, deren Meister im Welttheater William Shakespeare war.

Mit Rahns Schuss war Deutschland erstmals Weltmeister. Das feierte in einem von Krieg und Nachkrieg gezeichneten Land auch die sonst noch nicht beteiligte östliche Hälfte, während das kleine stolze Ungarn sich fühlte wie zuvor Brasilien. Die Elf um Puskas, Hidegkuti, Kocsis, die zuvor Brasilien und im Halbfinale den Titelverteidiger Uruguay ausgeschaltet hatte, war eine der besten Mannschaften aller Zeiten, sie spielte mit brasilianischer Eleganz und europäischer Dynamik und hatte bis zum Tag von Bern 31 Spiele hintereinander gewonnen. Aber das ist Fußball, das immer mögliche Wunder. Der (fast) immer mögliche Schock. Auch für den Außenseiter gilt dieses live your dreams.

Die WM in der Schweiz war die erste, die vom Fernsehen übertragen wurde

Die fünfte Fußball-WM 1954 in der Schweiz war die erste, die vom neuen Medium Fernsehen übertragen wurde. Ich war damals sechs Jahre alt, und merkwürdigerweise hatte die Legende von jener David-und-Goliath-Geschichte aus dem fernen, exotischen Südamerika und dem unbegreiflich großen, am Ende schweigenden Maracana-Stadion schon den fußballbegeisterten Buben in Heidelberg erreicht. Wenn wir Schulkinder nicht auf einer Wiese rumbolzten, dann kickte ich manchmal alleine gegen ein Garagentor im Hof und spielte im Kopf noch den Radioreporter mit: Jetzt schießt der tolle Stürmer Tralala (Herrn Ghiggias Namen kannte ich nicht), und Uruguay ist Weltmeister! Etwas später war mein Ball der Ball von Fritz Walter, den kannte ich, und von Hans Schäfer, der ihn zu Rahn passte, und nun waren „wir“ Weltmeister.

Bald geht's los: Das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro.
Bald geht's los: Das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro.

© AFP

Es gab in der Universitätsstadt Heidelberg einen Radiohändler, der bereits 1953 zur Übertragung aus London von der Krönung der jungen Queen Elizabeth II. erstmals einen laufenden Fernseher ins Schaufenster gestellt hatte. Davor drückten sich viele Nasen platt. Im folgenden Jahr hatte der Händler („Radio Ruppli“) sich auf der frühen Wirtschaftswunderwoge ein Einfamilienhaus vor der Stadt gebaut, mit einem Fernsehzimmer für Gäste im Erdgeschoss. Dort servierte Frau Ruppli für Geschäftskunden, zu denen auch mein Vater gehörte, während der ’54er WM Kaffee und selbst gebackenen Kuchen. Wahrscheinlich auch Bier. Die Spiele fanden mangels Flutlicht noch nachmittags statt, es war eine Art privates Fernseh-Tagescafé, und mein Vater nahm mich mit zum Halbfinale Deutschland–Österreich (6:1) und zum krönenden 3:2 gegen die zuvor so übermächtigen Ungarn. Ich habe mich damals auch sehr gefreut, war aber zugleich etwas erschrocken oder verwundert, dass lauter erwachsene Männer mit hochroten Gesichtern vor dem kleinen gewölbten Schwarzweißbildschirm in schier irrsinnig wirkende Freudentänze ausbrechen konnten.

Eine Frühform des "Public Viewing"

Das war eine Frühform des Public Viewings. Und weil das im Englischen „öffentliche Aufbahrung“ bedeutet, traf das Fantasiewort von heute zumindest auf die unterlegenen Ungarn zu.

Natürlich gab es bei uns noch keine Frau unter den Fernsehfußballgästen. Die Frauen blieben zu Hause, kochten Kaffee oder holten das Bier. Das ist, übers Farbfernsehen, die Professionalisierung, das Milliardenspiel und alles Fifapo hinaus, heute der größte Kulturunterschied. Die Mädchen, die Frauen sind dabei, im Stadion, vor den Leinwänden, vor den Schirmen. Sie kicken selber. Fußball ist längst Pop und keine Genderfrage. Spätestens die WM 1970 in Mexiko war auch im Fernsehen in Europa ein Massenereignis, erstmals hatten Kneipen und Restaurants TV-Geräte aufgestellt. Und das legendäre Halbfinale zwischen Deutschland und Italien, bei dem Franz Beckenbauer die Verlängerung mit gebrochenem Schlüsselbein spielte und die Italiener (seitdem: immer die Italiener!) am Ende 4:3 gewannen, es war ein Straßenfeger.

Neuerdings heißt jeder taktische Einfall "Philosophie"

Apropos Kulturunterschiede: Einst traten bei den sogenannten großen Fußballnationen nur für Brasilien und Portugal, später vermehrt auch für Holland und Frankreich nicht-weiße Spieler an. Inzwischen gehören in einer globalisierten, nomadischen Welt die Migranten zum Gesicht der meisten Mannschaften. Der Fußball ist so bunter geworden, schneller und athletischer, manchmal artistischer. Von den ersten Fernsehweltmeisterschaften existieren, weil es noch keine Magnetaufzeichnung gab, meist nur grieselnde Ausschnitte oder kürzere Filmaufnahmen. Die Szenen, die wir vom Wunderspiel im Berner Wankdorfstadion 1954 kennen, stammen aus der Kinowochenschau und sind unterlegt mit Herbert Zimmermanns berühmter Rundfunkreportage („Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Toooor! Toooor! Toooor! Toooor!“). Von der brasilianischen Weltmeisterwundermannschaft um Pelé, Garrincha, Didi, die ab 1958 fast ein Jahrzehnt lang die Bühne beherrschte und das Sambafußball-Image bis in die 2000er Jahre geprägt hat, gibt es überhaupt nur verwaschene Bildsprengsel, ein paar Highlights: nie das ganze Stück, bloß ein slapstickhaftes Nummerntheater.

Auf hohem technischem Niveau wurde doch viel bedächtiger gespielt

Später, von der besten Zeit der bundesdeutschen Mannschaft um Sepp Maier, Beckenbauer, Netzer, Overath, Hoeneß, Gerd Müller, zwischen 1972 (Europameister) und 1974 (Weltmeister), da zeigen die ersten TV-Aufzeichnungen, dass auf hohem technischem Niveau doch viel bedächtiger gespielt wurde. Ohne das ständige körpernahe Pressing, die Akteure hatten mehr Raum, und das heute übliche Klammern und Zerren am gegnerischen Spieler war noch unüblich, es hätte zu Freistößen, Gelben Karten und im Strafraum zu Elfmetern geführt. Statt diese Händel endlich zu unterbinden, werden neuerdings aus nächster Nähe angeschossene Arme als strafstoßwürdig angesehen, der reine Blödsinn.

Allerdings sind sportliche Stile und Spielweisen auch zeitgebunden und relativ. Der Fußball vor 20 oder 30 Jahren erschien den Dabeigewesenen, also in Echtzeit, nicht weniger kämpferisch und rasant – ähnlich wirken etwa Vergleiche zwischen Formel-1-Rennen von damals und heute: Das erlebte man zuletzt im Kino im Niki-Lauda-Film mit Daniel Brühl („Alles für den Sieg“).

Fußball kann eine Kunst sein. Was er selbst im WM-Jahr nicht wird, ist Philosophie. Jeder taktische Einfall, jede Stilart von Trainern oder Mannschaften heißt im Fachjargon neuerdings: „Philosophie“. Statt: Strategie, Konzept oder Instinkt. Aber es wird im Fußball gerade viel gedacht. Mit „Ich denke“ beginnt vor den Mikrofonen schon jeder zweite Spieler-Satz. Die schönste Pointe dazu lieferte wohl der Philosoph Lukas Podolski, der uns nach einem Match zu sagen wusste: „Ich denke, ich habe mich heute gut gefühlt.“

Was denken die Deutschen nun? Werden „wir“ am 13. Juli Weltmeister? In Rio im modernisierten Maracana-Stadion, das als „Multifunktionsarena“ jetzt nur noch knapp 80 000 Zuschauer fasst. Die brasilianische Seleção um Neymar, Dante, Alves, Gustavo, Hulk gilt nach ihrem Sieg über Spanien letztes Jahr im Confed-Cup als Favorit, neben dem spanischen Titelverteidiger. Das oftmals glanzvolle Jogi-Löw-Team um Neuer, Lahm, Schweinsteiger, Özil, Khedira, Goetze & Co. ist eingedenk der Halbfinal-Enttäuschungen gegen Spanien und Italien bei der WM 2010 und der EM 2012 sowie nach ein paar Schwächeeinbrüchen und Verletzungspech eher nur der gehobene Außenseiter. Diese Rolle ist Deutschland seit 1954, auch beim letzten Titel 1990 in Rom, viel besser bekommen als feste Gewinnerwartungen, die sich als Favorit und Gastgeber 1974 selbst im Münchner Finale gegen Holland nur mit Glück erfüllt haben.

Und die Politik und die Geschäfte? Der materielle Aufwand für eine WM hat mittlerweile nichts mehr zu tun mit dem hellen, herrlichen Wahnsinn des Spiels. Nur mit blatternder Präpotenz und Habgier. Man denkt so schon beklommen an die kommenden Weltmeisterschaften in Russland und Katar. Auch in Brasilien herrscht hinter den tanzenden Kulissen ein Brutalismus, gegen den es Massenproteste gab. Aber das wird, sobald der Ball erst rollt, für eine Weile vergessen sein. And the winner takes it all.

Bald geht's los: Das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro.
Bald geht's los: Das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro.

© AFP

Zur Startseite