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Am 27. November stimmt das Volk in Baden-Württemberg über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 ab.

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Volksabstimmungen: Europa, S21 und die Untiefen der direkten Demokratie

In Deutschland wird der Ruf nach direkter Demokratie immer lauter. Dabei bringen Volksabstimmungen nicht unbedingt mehr Demokratie und sind keine Alternative zum Parlamentarismus.

Die Griechen dürfen nun doch nicht über den Euro abstimmen. Nach einer kurzen erregten Debatte wurde die geplante Volksabstimmung wieder abgesagt. Stattdessen bekommt Griechenland einen neuen Ministerpräsidenten und eine Übergangsregierung, die auch die Opposition einschließt. Sie soll die Sparbeschlüsse des EU-Gipfels von Ende Oktober umsetzen. Zu groß war die Angst der griechischen Politik und Europas, das Volk könnte sich an den Abstimmungsurnen als unberechenbar und wenig sparwillig erweisen. Anschließend gibt es in Griechenland im Februar oder März Neuwahlen. Viel spricht dafür, dass die regierenden Sozialisten dann ihre Mehrheit im Parlament verlieren. Der Versuch von Ministerpräsident Georgios Papandreou mit Hilfe des Volkes seine Macht zu sichern, ist schnell gescheitert. 

Auch in Deutschland gibt es im Zusammenhang mit Europa und dem Euro immer wieder lautstarke Rufe nach einer direkten Beteiligung des Souveräns. Zunächst jedoch werden die Anhänger der direkten Demokratie in den kommenden Wochen gebannt nach Baden-Württemberg blicken. Am 27. November sind die Wähler des Landes dazu aufgerufen, über die Zukunft des umstrittenen Großprojektes Stuttgart 21 zu entscheiden. 

Der Ausgang der Befragung ist völlig ungewiss. Zunächst sah es so aus, als hätten die Gegner des geplanten Tunnelbahnhofs kaum eine Chance. Aber mittlerweile holen sie auf. Doch egal, wie die Volksabstimmung ausgeht, schon jetzt ist völlig klar, der Konflikt um das Milliardenprojekt, der das Land spaltet, wird damit nicht gelöst werden. Für den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann fangen die Probleme damit erst an. Entweder er muss anschließend einen Bahnhof bauen, den er und seine Partei vehement ablehnen. Oder er muss ein Infrastrukturprojekt stoppen, in das bereits ziemlich viel Geld investiert wurde und dessen Bau rechtlich umfassend genehmigt wurde. Darüber hinaus wird die Volksabstimmung auch den Konflikt mit dem Koalitionspartner SPD nicht lösen. 

Mit der Befragung des Souveräns erfüllt Kretschmann nicht nur ein Wahlversprechen. Sie war zugleich die einzige Möglichkeit, den tiefen Riss in der Regierungskoalition zu überbrücken. Denn genauso vehement, wie die Grünen den Tunnelbahnhof ablehnen, so deutlich befürworten die Sozialdemokraten dessen Bau. Die Volksabstimmung ist also auch ein ziemlich fauler politischer Kompromiss, der es der grün-roten Landesregierung ermöglichte, die CDU nach über einem halben Jahrhundert in Baden-Württemberg von der Macht zu verdrängen. Doch faule Kompromisse holen die Parteien meist irgendwann ein. Schon jetzt zeigt sich, dass es Grünen und SPD nicht gelingt, in der Landesregierung vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. 

Wie in Griechenland zeigt sich somit auch in Baden-Württemberg: Es ist gar nicht so einfach, die direkte und die parlamentarische Demokratie miteinander zu verknüpfen. Zwar werden auch in Deutschland Volksabstimmungen immer populärer. Der Ruf nach mehr direkter Demokratie hat längst die Parteien erreicht. Angesichts von erodierenden Wählerbindungen und wachsender Kluft zwischen den Wählern und der politischen Klasse gelten sie manchen Politikern gar als Wundermittel. Der Ruf klingt zwar sympathisch, es scheint notwendig geworden, in einer verkrusteten Parteiendemokratie den Willen der Wähler gelegentlich in Volksabstimmungen zu ermitteln. Ein Allheilmittel gegen Politik und Parteienverdrossenheit sowie gegen die Krise der Demokratie sind sie nicht. Im Gegenteil: Die Untiefen der direkten Demokratie sind unübersehbar.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wo genau die Untiefen der direkten Demokratie liegen.

Erstens ist die Volksabstimmung ein klassisches Instrument der Opposition, mit dem sie die Regierung zwischen den Wahlen unter Druck setzen kann. Regierungen verfügen schließlich über eine Mehrheit im Parlament, mit dessen Hilfe sie regieren können. Am Wahltag wird dann abgerechnet. Wenn hingegen Regierungschefs Volksabstimmungen ansetzen, dann dient dies in der Regel dem Versuch, mit populistischen Tricks die eigene Macht zu sichern. 

Zweitens betritt mit Volksabstimmungen ein neuer politischer Vetospieler die Bühne der Demokratie. In Deutschland gibt es mit dem Bundesrat jedoch bereits einen einflussreichen Vetospieler. Die Gefahr, dass sich das politische System mit mehr direkter Demokratie völlig blockiert und strukturell entscheidungsunfähig wird, ist groß. 

Drittens ist der Klassencharakter der direkten Demokratie unübersehbar. Für mehr direkte Demokratie engagieren sich vor allem die gebildeten Mittelschichten. Die Unterschicht hingegen ist in zivilgesellschaftlichen Initiativen kaum vertreten. Immigranten sind eher die Ausnahme. Den Ausgegrenzten, Marginalisierten und Armen hilft die Mittelschicht jedoch erst dann, wenn sie ihre Privilegien gesichert hat. Deren Ressentiments könnten im Vorfelde von Volksabstimmungen weiter geschürt und populistisch zugespitzt werden. 

Viertens machen Volksabstimmungen die Demokratie anfälliger für finanzstarke Lobbys, Unternehmen oder Kapitalinteressen. Sie könnten versucht sein, ihre Ziele auf diesem Wege mit populistischen Parolen, viel Geld und professionellen Kampagnen durchzusetzen. 

Volksabstimmungen sind also alles andere als ein demokratisches Wundermittel. Sie verschieben die Machtbalance in der Demokratie zu Lasten der Parteien und zu Lasten derjenigen, denen es in der Gesellschaft schwerer fällt, sich politisches Gehör zu verschaffen und ihre Interessen zu artikulieren. 

Es mag sein, dass eine selbstbewusste Bürgergesellschaft und Volksabstimmungen dazu beitragen können, die Demokratie in Deutschland wieder zu konsolidieren. Es mag sein, dass Parteien und Politiker gezwungen wären, wieder intensiver für ihre Politik zu werben. Der Politologe Franz Walter nennt sie deshalb ein „Frühwarnsystem“. Aber dies führt nicht notwendigerweise zu mehr Demokratie. Eine Alternative zur Parteiendemokratie und zum Parlamentarismus ist sie nicht.

Christoph Seils leitet die Online-Redaktion des Magazins Cicero. In diesem Jahr erschien sein Buch „Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien?“ im WJS-Verlag. Er schreibt an dieser Stelle wöchentlich über die deutsche Parteienlandschaft.

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