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Ein Mitarbeiter des Landesamtes für Statistik in Düsseldorf prüft die Fragebögen für die Volkszählung.

© dpa

Volkszählung 2011: Eine Scheinwelt aus Daten

Früher galt der "gläserne Bürger" als die Hauptgefahr des amtlichen Datensammelns. Heute ist die größte Gefahr der Irrglaube, dass es diesen Gläsernen längst gibt. Digitale Resignation hat sich breitgemacht.

Von Robert Birnbaum

Als Anfang der 80er Jahre unter dem seinerzeitigen Ersatzkaiser Helmut Kohl der Befehl ausging, dass alles Volk sich schätzen ließe, hat das Volk sich dem in großen Scharen widersetzt. Das Verfassungsgericht stoppte die Volkszählung, erst vier Jahre später ließen sich die Deutschen unter lautem Protest erfassen. Dieser Tage läuft die erste gesamtdeutsche Erhebung. Nennenswerter Widerstand ist nicht in Sicht. Sind wir geworden, was die Boykotteure damals riefen: „Nur Schafe lassen sich zählen“?

Nun, die Zeiten sind schwer vergleichbar. Um die Jahre 1983/87 war ein Teil der westlichen Republik sowieso ständig auf dem Baum und auf der Straße: gegen Nachrüstung, gegen Atomkraft, gegen Gesinnungsprüfung im öffentlichen Dienst. Wer von Daten redete, dachte an „1984“, George Orwells Roman über den totalen Überwachungsstaat. „Meine Daten gehören mir“ war folgerichtig der Kampfruf des Tages, vom Verfassungsgericht übersetzt ins Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Dieses Recht gilt weiter. Es ist bedrohter denn je. Aber ein Vierteljahrhundert später hat sich digitale Resignation breitgemacht. Die eigenen Daten bei sich zu behalten, scheint in der vernetzten Welt hoffnungslos; Ebay, Apple, Facebook und der Kerl, der sich bei Sony in die Adressdatei gehackt hat, haben sie sowieso. Unter den Datenkraken hat sich der alte Vater Staat als der harmloseste erwiesen. Was seine Zähler wissen wollen – Gottchen, das weiß doch längst jeder.

Leider liegt in diesem resignierten Satz ein tieferes Problem verborgen. Früher galt der „gläserne Bürger“ als die Hauptgefahr des amtlichen Datensammelns. Heute ist die größte Gefahr der Irrglaube, dass es diesen Gläsernen längst gibt. Sind nicht Einkaufsverhalten und Hobbys, Kontostand und Benzinverbrauch, ist nicht alles statistisch erfasst? Selbst politische Meinung wird im Wochentakt vermessen. Die Datenflut erzeugt den Eindruck des Allwissens. Wer aber glaubt, alles zu wissen, richtet seine Entscheidungen danach aus. Gerade in der Politik kann man die Folgen dieser neuen Datengläubigkeit beobachten. Wahlkämpfe werden von Demoskopen konzipiert. Umfragen ersetzen den Kontakt zum Volk. Statistiken bestimmen den Kurs von Parteien und Regierungen – von Pisa bis zur Kinderarmutszahl. Wer leise Zweifel äußert, steht als Ignorant oder Ideologe da, der die Wirklichkeit nicht sehen will, weil sie ihm nicht passt.

Aber die Daten sind nicht die Wirklichkeit. Bestenfalls sind sie ein Hinweis darauf. Dass die Zahl der armen Kinder zwei Jahre lang viel zu hoch geschätzt wurde, ist das kleinere Problem. Schlimmer ist, dass sich kaum jemand klarmacht: Auch die korrigierte Zahl ist bloß der mathematische Ausdruck für eine Behauptung, was Armut bedeutet. Diese Behauptung ist politisch. Darüber kann man diskutieren. Politik traut sich das oft nicht. Sie räumt einer Scheinwelt aus Daten eine Macht über sich selbst ein, die einem Automatismus gleichkommt. Kinderarmut plötzlich gestiegen? Nicht fragen, handeln: Kindergeld rauf!

Die Volkszählung, richtig verstanden, könnte diesen Kinderglauben sogar heilen helfen. Sie ist ja nur deshalb nötig, weil echte Statistiker um die Fragwürdigkeit der eigenen Daten wissen, selbst in so simplen Fällen wie der Einwohnerzahl. Nach der Zählung wird die Zahl übrigens immer noch nicht richtig sein, bloß weniger falsch. Selbst die besten Zahlen sind stets nur ein schwaches Abbild der Wirklichkeit. Zu schwach, um die Welt allein nach ihnen zu gestalten.

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