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Meinung: Vom Leben im Keller

Roger Boyes, The Times

Der Keller ist für mich schon immer der geheimnisvollste Ort im Haus gewesen. Als Kind war er ein Fluchtort, wo ich mit der Taschenlampe las, während meine Eltern oben einen ihrer epischen Streits abhielten. Ich spürte, wenn diese Stürme heranzogen, und dann nahm ich mir eine Decke, eine Banane und ein Stück Käse und verzog mich hinter den ausrangierten Schaukelstuhl im Keller. Das waren gute oder wenigstens keine schlechten Momente. Viele fürchten sich vor dem Keller, aber in Berlin habe ich die Erfahrung gemacht, dass er vielen älteren Menschen hier einladend vorkommt – eine Höhle, die sie vor den Bomben geschützt hat und später vor den Russen.

Deshalb geht vom Fall der Natascha Kampusch, dem österreichischen Mädchen, das acht Jahre lang in einem Keller festgehalten wurde, eine starke Faszination aus. Der Keller war ihr Gefängnis, aber auch der Ort, an dem sie aufwuchs, ein Teil von ihr.

Vor ein paar Tagen erzählte sie, wie sie ihren Entführer damit tyrannisierte, dass sie Weihnachtsdekoration aufhängte. Ein neues Buch, „Girl in the Cellar“, erforscht diese komplizierte Beziehung: wie eine junge Frau in einer Position der Schwäche langsam versteht, dass sie stärker ist als ihr Entführer, und wie sie diese Macht ausübt. Leider wird in Deutschland niemand das Buch lesen können, weil die Anwälte von Frau Kampusch es als Verletzung ihrer Privatsphäre sehen.

Für mich als Engländer dreht sich die Kampusch-Geschichte eindeutig um so universelle Themen, dass ihr Recht, zu beeinflussen, was über sie geschrieben wird, zurücksteht. Es ist wichtig, dass gerade junge Menschen verstehen, was der Wille vermag. Natascha Kampusch überstand ihre Situation, indem sie die innere Ruhe fand abzuwarten – eine Kombination aus Kampfeswillen und Geduld. Das Buch sollte in Deutschland nicht verboten sein, sondern in Schulen gelesen werden. Das wahre Geheimnis des Kellers liegt darin, dass man sich in ihn zurückziehen kann von der Welt, zu sich selbst finden kann. Dieses Mädchen aus Österreich hat das intuitiv verstanden und so ihr Verlies in etwas Positives verwandelt.

Nachdem ich von Kampuschs Weihnachtsdeko gelesen hatte, ging ich zum ersten Mal seit Monaten wieder in den Keller. Dort lagern die meisten meiner Unterlagen in einem gigantischen und – in Zeiten des Internets – etwas überflüssigen Archiv. In den grauen Metallschränken liegen rot gebundene Ausgaben des „Spiegel“, die bis ins Jahr 1984 zurückreichen. Damals war der „Spiegel“ noch das Kollektivgedächtnis Westdeutschlands. Ich entsorgte dann einige Teile der deutschen Geschichte – Cargolifter: Müll, Solidarpakt: Müll –, bis ich merkte, dass ich damit auch meine eigene Geschichte wegschmiss.

Berliner Leben landen alle irgendwann im Keller, in einer Art Wartestand. Plötzlich kam es mir illoyal vor, den alten AmstradComputerbildschirm wegzuwerfen – nie benutzt, aber das Erbstück eines Korrespondenten, als der seinen Job verlor. Daneben fand ich ein kaputtes Eishockeyspiel, die Abenteuer der Beatrix Potter, ein Holzschwert, eine Olympia-Schreibmaschine, die Tasche vom Berliner EU-Gipfel 1999 und den Berliner Bären, den wir damals bekamen, als Wiedergutmachung, weil eine Stromunterbrechung im Presseraum uns an der Arbeit gehindert hatte.

Ein unaufgeräumter Keller schreit nach Auslese, nach der Entscheidung zwischen jenen Teilen des eigenen Lebens, auf die man verzichten kann, und solchen, die vielleicht unnötig, aber unentbehrlich sind. Mein ehemaliger Nachbar, ein preußischer Graf, lagerte im Keller lediglich seine Gewehre und seinen Wein. Entledigt sich der Adel vielleicht nie der Vergangenheit, sei sie noch so peinlich? Oder kaufen sie nie Vasen bei Ikea und haben deshalb nichts Peinliches in ihrem Besitz?

Wenn Berlin doch bloß das Sperrmüllsystem einführen würde, das es im Rheinland gibt! Was habe ich nicht alles weggeschmissen – das Elchgeweih, eine Kiste mit russischen Souveniren, den explodierenden Toaster – und dann durch die Vorhänge beobachtet, wie alles Brauchbare, Reparierbare, gerade noch Schöne vom Bonner Bürgersteig aufgeklaubt wurde. Zuerst kamen die Türken, dann die Polen, schließlich die Bosnier. Es war schön, sich die Zimmer auszumalen, die mit den Gegenständen eingerichtet waren, die ich aus meinem Keller herausgegraben hatte; zu denken, dass ein alter Kühlschrank ein Leben nach dem Tode haben könnte.

Ich bin sicher, dass es gut für Berlin und die Berliner wäre, wenn es eine monatliche Sperrmüllsammlung gäbe. Wir alle müssen uns unserer Geschichte und unseren Fehlern stellen: Ab und zu müssen wir alle unserem Keller einen Besuch abstatten.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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