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Meinung: Von der Kunst zu sterben

Sich selbst sowie Freunde und Verwandte mit dem eigenen Tod vertraut zu machen, bringt wichtige Einsichten – für das Leben

Ja, das verdrängen wir alle lieber: das eigene Sterben. Doch es geht uns je einzeln an, ganz konkret, denn sterben werden wir alle, du und ich. Es ist wichtig, darüber nachzudenken, nicht nur an den Tagen um Karfreitag und Ostern, an denen der Tod Jesu und seine Auferstehung auch öffentlich wahrgenommen werden. Während allzu lange der Tod weit weg schien, Sterbende sich abgeschoben fühlten, der schnelle Tod als Gnade erscheint, hat die politische Diskussion um die Patientenverfügung unweigerlich den Einzelnen erreicht: Wie will ICH sterben?

Ich bin dankbar für diese Diskussion. Allzu lange hat die Spaßgesellschaft zu ignorieren versucht, dass wahr ist: Sterben müssen wir alle. Und wenn dann einer krank wurde, hieß es: „Wird schon wieder.“ Wenn eine starb, hieß es: „Da kommst du drüber hinweg.“ Nein, es wird nicht wieder, und über den Tod kommst du nicht so einfach hinweg. Sterben ist eine todernste Sache, da hilft auch kein Witz, höchstens tiefgründiger Lebenshumor.

Meine Erfahrung ist: Wenn wir über den Tod sprechen, wird das Leben leichter. Die „ars moriendi“, die Kunst des Sterbens, müssen wir neu lernen. Im Mittelalter galt ein plötzlicher Tod als tragisch. Sich vorbereiten, regeln, was zu regeln ist, vergeben, wo zu vergeben ist, die Worte sagen, die noch gesagt werden müssen – all das macht ein plötzlicher Tod unmöglich. Es bleiben Menschen schockiert zurück, die sich immer fragen werden, ob sie nicht dies tun oder das hätten sagen sollen. „Für sie war es ja gut“, sagen viele, wenn eine etwa der Herzinfarkt tödlich trifft. Aber war das so? Hätte sie dem Sohn nicht vielleicht noch etwas Besonderes mitgeben wollen, dem Mann noch sagen wollen, was er ihr bedeutet? Es ist letzten Endes die Angst vor dem Tod, die Sehnsucht nach dem schnellen Tod verursacht.

Und diese Angst vor dem Tod wird verstärkt durch die Leistungsfähigkeit der Medizin: Es kann reanimiert, künstlich beatmet, künstlich ernährt werden. Das Ausgeliefertsein an die Medizin, ohne selbst das Leben loslassen zu dürfen, das ist für viele Menschen eine grauenhafte Vorstellung. Vielleicht müssen wir auch das Sterbenlassen neu lernen, das Sterben als Gnade sehen. Das ist übrigens etwas völlig anderes als Tötung auf Verlangen oder geschäftsmäßige Hilfe zum Suizid. Es geht darum, das Leben nicht künstlich zu verlängern oder durch Schmerztherapie in Kauf zu nehmen, dass solche Maßnahmen Leben verkürzen könnten. Wenn Menschen darauf vertrauen dürfen, dass sie schmerztherapeutisch gut behandelt werden, nimmt der Wunsch nach sogenannter „aktiver Sterbehilfe“ ab. Deshalb muss die Palliativmedizin in Deutschland dringend ausgebaut werden. Gute erste Schritte sind auf dem Weg, jetzt gilt es, sie in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten wie Pflegekräften als Pflichtfach zu etablieren. Und auch in Altenheimen und Kliniken muss Palliativversorgung zum normalen Alltag werden.

Ich bin aber überzeugt, wer die „ars moriendi“ lernt, findet auch zu einer größeren Tiefe des Lebens. Wer etwa nie ernsthaft krank war, weiß weniger über das Leben. Wer nie einen sterbenden Menschen begleitet hat, dem fehlt eine der tiefsten Erfahrungen überhaupt. Vielleicht ist es manchmal die Poesie, die es leichter macht auszudrücken, was wir denken. So nehme ich ein Gedicht von Friedrich Karl Barth und Peter Horst zuhilfe:

Wenn es so weit sein wird

Wenn es so weit sein wird

mit mir,

brauche ich den Engel in dir.

Bleib still neben mir

in dem Raum,

jag den Spuk, der mich schreckt,

aus dem Traum.

Sing ein Lied vor dich hin,

das ich mag,

und erzähle, was war

manchen Tag.

Zünd ein Licht an,

das Ängste verscheucht,

mach die trockenen Lippen

mir feucht.

Wisch mir Tränen und Schweiß

vom Gesicht,

der Geruch des Verfalls

schrecke dich nicht.

Halt ihn fest, meinen Leib,

der sich bäumt,

halte fest, was der Geist

sich erträumt.

Spür das Klopfen,

das schwer in mir dröhnt,

nimm den Lebenshauch wahr,

der verstöhnt.

Wenn es so weit sein wird

mit mir,

brauche ich den Engel

in dir.

Da ist in Worte gefasst, was viele Menschen nicht sagen können. Ja, selbst die Angst ist beschrieben. Das mit einem Angehörigen zu besprechen, braucht viel Sensibilität. Aber nur so können andere bevollmächtigt werden, im Falle eines Falles für mich zu sprechen. Diese Bevollmächtigung kann viel wichtiger sein als die Patientenverfügung, wenn es darum geht, den „mutmaßlichen Patientenwillen“ zu benennen.

Gerade weil ich im Alltag oft so vieles auf der „To-do-Liste“ habe, wünsche ich mir ausreichend Zeit, mich von den Menschen, die ich liebe, zu verabschieden, dass ich gesagt und geregelt habe, was zu sagen und zu regeln ist. Einen Familienvater habe ich erlebt, der Freunde und Verwandte so wie es seine Kräfte erlaubten zu Besuch kommen ließ und ihnen allen je ein ganz persönliches Geschenk mitgab. Sie alle halten diese Gabe in Ehren, es bedeutet ihnen viel. Bei einem anderen sagte hinterher eine Bekannte zur Ehefrau: Ich beneide dich, dass du mit ihm über den Tod sprechen konntest.

Wenn wir sterben, geht es einerseits ganz existenziell um uns selbst. Aber es geht auch um diejenigen, die wir zurücklassen. Sind sie so getröstet, finden sie auch die Kraft, wieder neu nach vorn zu blicken. Da wird auf einmal deutlich, dass eben nicht Geld, sondern Liebe der entscheidende Faktor im Leben ist.

Knapp 50 Prozent der Menschen beenden ihr Leben in Krankenhäusern und schätzungsweise 25 bis 30 Prozent in Alten- und Pflegeheimen. Ich selbst würde gern in Ruhe sterben, in einem Hospiz oder zu Hause. Das Sterben im Krankenhaus ist oft von so viel Hektik und Unruhe begleitet, da fehlt die Würde, die Sterben braucht. Ja, ich weiß, es gibt auch gute Erfahrungen im Krankenhaus, und ich schätze auch, wie viel Mühe sich Pflegekräfte und Ärztinnen wie Ärzte geben, das Sterben würdig zu gestalten. Kapellen, Orte der Ruhe und Einkehr gibt es inzwischen auch an sehr vielen Orten – Gott sei Dank. Und doch sehe ich in Hospizen, wie behutsam auf die ganz besondere Situation eingegangen werden kann. Wir brauchen dringend mehr Hospize und Krankenkassen, die nicht nach 17 Tagen im Hospiz Leistungen einschränken. Leben hat seine Zeit, Sterben braucht seine Zeit. Nein, eine Ästhetisierung des Todes bringt das Hospiz nicht, wie manche behaupten. Aber da ist Zeit, Raum, Ruhe – und damit Würde. Das gilt übrigens auch für den ambulanten Hospizdienst. Es wäre doch wichtig, die Umstände des eigenen Todes genauso liebevoll und sorgsam planen zu können wie eine Geburt, selbst bestimmen, wer bei uns ist, welchen Raum wir uns wünschen. Jeder Tod ist ganz individuell, und das braucht eine besondere Atmosphäre, wenn wir uns denn vorbereiten können.

Das gilt auch bei der Trauerbegleitung und der Bestattung, nach meiner Meinung gehört in diese ganze Debatte auch ein Gespräch über Bestattungskultur. Andreas Fincke hat in einer Untersuchung gerade belegt: „Die Bestattungskultur ist wie noch nie in Bewegung geraten – und das ist ein Indiz für weitgehende Veränderungen auf dem Markt der (kirchenfernen) Riten.“ Es gibt zwei Tendenzen: einerseits hin zu mehr Anonymität, andererseits hin zu mehr Individualität!

Die Anonymität bedaure ich, sie erscheint mir als Kulturverlust. Den Namen eines Menschen erinnern, das ist von elementarer Bedeutung. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“, so spricht Gott in der Bibel. Je einzeln sind wir wertvoll. Viele sind heute so einsam in unserem Land, dass sie eine anonyme Bestattung wünschen oder gar als „herrenlose Leichen“ (amtlicher Begriff!) durch die Kommune anonym bestattet werden. Andere wollen schlicht ihren Angehörigen nicht posthum mit Grabpflege zur Last fallen.

Mir ist wichtig, dass wir unsere Toten liebevoll erinnern, namentlich und an öffentlich zugänglichen Orten. Das sind Kriterien, die ich auch für die Friedwälder als Prüfmaßstab anlege. Auf dieser Grundlage ist manches möglich. So gibt es beispielsweise Urnenfelder, die in den Rasen eingelassen sind, wodurch den Angehörigen die Pflege abgenommen wird. An den Feldern stehen Steintafeln, die die Namen der Verstorbenen erinnern. Mir scheint das eine würdige Form zu sein, die – das belegen Statistiken – einen deutlichen Rückgang des Wunsches nach anonymer Bestattung zur Folge hat.

Ja, Bestattung ist ein großes Thema. Rund 840 000 Menschen sterben jedes Jahr in unserem Land. Der Wunsch nach Individualität bei der Bestattung beziehungsweise nach Anonymität scheint dabei die Kirchen im Bestattungswesen zur Seite zu drängen. In Berlin ist in den letzten drei Jahren die Zahl der kirchlichen Beerdigungen von 40 auf 35 Prozent zurückgegangen, in Halle an der Saale liegt die Quote kirchlicher Bestattungen bei zwölf Prozent. Bundesweit wurden 2001 39 Prozent der Verstorbenen evangelisch, 32 Prozent katholisch bestattet. Immerhin sind das zusammen noch 71 Prozent! Aber es zeigt sich, unsere Kirche ist gefordert, auch auf individuelle Wünsche einzugehen, die Bestattung liebevoll und zugewandt zu gestalten.

Es geht hier durchaus auch um eine Qualitätsfrage, wie sie an vielen Orten in der Evangelischen Kirche diskutiert wird. Das mag manche als Begriff abstoßen. Aber wer sich einmal die Internetseiten privater Bestatter anschaut, sieht, was gemeint ist. So hat die lutherische Bischofskonferenz jüngst empfohlen, „wieder vermehrt in Kirchen Trauergottesdienste in Anwesenheit des Sarges Verstorbener zu feiern“ und „individuellen Wünschen der Trauernden besser Rechnung zu tragen“. Das ist ein wichtiger Schritt. Zudem sollte unsere Friedhofskultur flexibler auf die Wünsche nach Individualität eingehen. Es muss nicht alles genormt sein.

Am wichtigsten aber wird bleiben, ob angesichts des Todes, am Sterbebett oder bei der Trauerfeier die christliche Auferstehungshoffnung klar und überzeugend zu Wort kommt. Selten sind die Anwesenden so offen für diese Botschaft, an diesem Punkt entscheidet sich, ob Verkündigung glaubwürdig ist. Was mich selbst betrifft: Wenn ein lieber Mensch bei mir wäre, der meine Hand hält, mit mir ein Vaterunser betet und mir noch einmal „Befiehl du deine Wege“ vorsingt, könnte ich in Frieden gehen, denke ich. Und wenn der Arzt dann sagt: Exitus, sagt mir mein Glaube: Introitus! Der Tod ist für mich, um es mit Heinz Zahrnt zu sagen, kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt, das Leben eine Einbahnstraße auf Gott hin, bei der der Tod keine Sackgasse darstellt. Als ich vor knapp drei Jahren die Trauerfeier für ihn gehalten habe, kam eine Art Glaubensheiterkeit auf, die mir gezeigt hat: Wir empfinden, was wir in der Liturgie sagen: „Er wird nun sehen, was er geglaubt hat!“

Wie schrieb Dorothee Sölle in ihrem letzten, ja unvollendeten Buch: „Das Einswerden mit Gott tilgt die Angst vor dem Tod. Der Mensch, der sich auf Gott bezieht, ist sich selbst entzogen, auch sich selbst als einem Sterbenden kann er entkommen … Ein an Leukämie sterbendes Kind sagte zu seinen Eltern: ‚Ihr könnt noch nicht mit, ich geh schon vor.‘ Es war sich selbst gnädig entzogen. Das ist der Weg, vom terror mortis freizukommen.“ Oder wie Luther gesagt hätte: Das ist der Weg zur ars moriendi, zur Kunst des Sterbens.

Und wo fängt sie an, diese ars moriendi? Damit, dass ich den Tod nicht ausklammere aus dem Leben. Psalm 90 sagt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Um solche Lebensklugheit geht es, wenn wir uns mit dem Tod auseinandersetzen. Sie kann das Leben vertiefen, ja zur ars vivendi, zur Kunst des Lebens führen. Das gilt vor allem, wenn sie sich speist aus dem Osterruf: „Er ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja!“ Damit stehen wir im Zentrum der christlichen Hoffnung.

Margot Käßmann

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