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Meinung: Vor dem EU-Reformgipfel: Zur Vernunft zwingen

Nur wenige Tage vor dem Gipfel von Nizza ist ein Erfolg der institutionellen Reform der Europäischen Union höchst zweifelhaft. Sie ist noch weit von der Erweiterungsfähigkeit und der Stärkung der demokratischen Legitimität entfernt.

Nur wenige Tage vor dem Gipfel von Nizza ist ein Erfolg der institutionellen Reform der Europäischen Union höchst zweifelhaft. Sie ist noch weit von der Erweiterungsfähigkeit und der Stärkung der demokratischen Legitimität entfernt. Nur durch einen politischen Willens- und Kraftakt kann es noch möglich werden, einen substanziellen Erfolg zu erzielen.

Kernpunkt der Erweiterung ist die Schaffung von Strukturen, die es auch einer erweiterten Union erlauben, handlungsfähig zu sein. Das Einstimmigkeitsprinzip im Rat kann in einer Union von bis zu 27 Mitgliedsstaaten als nicht mehr gangbar angesehen werden. In der Konferenz wird zwar über 45 Bereiche diskutiert, in denen das Mehrheitsprinzip angewendet werden könnte. Unter anderem Handels-, Struktur-, Rechts- und Asylpolitik sowie in den binnenmarktrelevanten Teilen der Steuer- und Sozialpolitik. Im Laufe der Verhandlungen zeigt sich, dass jedes Land andere Politikfelder hat, die von nationalem Interesse sind und damit potenziell die Gefahr des Vetos beinhalten. Die Konferenz ist geprägt durch Misstrauen zwischen großen und kleinen Staaten. Wenn es nicht gelingt, in diesen Bereichen einen Konsens zu erreichen, wird der Gipfel als gescheitert beurteilt werden müssen. Auf dem Weg, die Europäische Union für die Zukunft zu reformieren, werden auch Fortschritte beim Abbau des demokratischen Defizits gefordert.

Zudem muss es wichtig werden, dass sich die europäische Bevölkerung im Europäischen Parlament repräsentiert sieht. Das einzige direkt gewählte Organ auf europäischer Ebene wird seine Legitimität auf Dauer nur erhalten können, wenn es die Bevölkerungszahl der einzelnen Mitgliedstaaten durch eine proportionale Verteilung der Sitze widerspiegelt.

Die europäischen Institutionen dürfen durch diese Konferenz nicht geschwächt werden. Deshalb ist es auch unverständlich, dass die Möglichkeit der Verknüpfung einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im intergouvernementalen Rat und der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments nicht richtig diskutiert wurde. Ebenso muss kritisiert werden, dass wenn die französische Präsidentschaft einen Vorschlag unterbreitet, das Zusammenarbeitsverfahren im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik abzuschaffen und durch die schwächste Form der Beteiligung des Parlaments, das Anhörungsverfahren, zu ersetzen. Für die Identität der kleineren Staaten ist eine starke Stellung im Rat wichtig. Es spielt keine Rolle, wenn sie dort überrepräsentiert sind, so lange gewährleistet wird, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter den Entscheidungen steht. Das kann über eine doppelte Mehrheit gesichert werden.

In einem "Zukunftsartikel" gilt es festzuhalten, was nach Nizza geschehen soll. In einem weiteren Verhandlungsprozess, der frühestens nach der Ratifizierung des Vertrags von Nizza beginnen kann und wichtige Fragen nach der Konstitutionalisierung und der Aufnahme der Grundrechtecharta in die Verträge erörtern wird. Bevor jedoch dem Anliegen nach einer Kompetenzabgrenzung nachgegangen wird, sollte innerhalb der Bundesrepublik erst einmal eine Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Europapolitikern sowie in den verschiedenen politischen Familien erfolgen.

Seit Februar diesen Jahres hat die Ministerebene neun mal, die Ebene der Beauftragten in der Vorbereitungsgruppe neunzehn mal getagt. Zusätzlich wurde in Konklaven und informellen Treffen verhandelt. Das Ergebnis - ein Synthesepapier, das von der französischen Präsidentschaft vorgelegt wurde - ist dürftig. Es hat Vorschläge, die den französischen Interessen entgegenstanden, kaum aufgenommen.

Überhaupt kann das Verfahren kritisiert werden. Auf den Treffen der Außenminister haben sich die Minister der großen Staaten meist gar nicht erst zum Verhandlungstisch bemüht. Stattdessen ließen sie sich von ihren Beamten vertreten, die naturgemäß weisungsgebunden sind. Für die Zukunft sollten wir überdenken, ob es nicht sinnvoller wäre, für eine eventuelle Folgekonferenz zur Ausarbeitung einer Verfassung einen aus Politikern zusammengesetzten Konvent à la Grundrechtechartakonvent zu beauftragen. Dort sind innerhalb kürzester Zeit hervorragende Ergebnisse erzielt worden.

Elmar Brok

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