"Behinderte Menschen in Deutschland wählen mit dem seit der Geburt blinden Journalisten Keyvan Dahesch in der Bundesversammlung den Bundespräsidenten mit!“, erklärte die damalige hessische Sozialministerin Ilse Stiewitt (SPD) in einer Pressemitteilung. Eine Fechtweltmeisterin, der Vorstandschef der Frankfurter Flughafen AG und einige Film- und Fernsehstars gehörten 1994 mit mir der SPD-Fraktion der zehnten Bundesversammlung an. „Diese angesehenen Frauen und Männer wollen Johannes Rau, der die Gesellschaft versöhnen möchte, zum Staatsoberhaupt wählen“, verbreitete werbewirksam die SPD. Vergebens. Die Hoffnung, mit solchen „Promis“ auch aus anderen Fraktionen Stimmen für die eigenen Kandidaten zu bekommen, hat sich bei keiner Bundesversammlung erfüllt.
Der Zapfenstreich für Christian Wulff in Bildern:

1994 wurde nicht Rau, sondern Roman Herzog im dritten Wahlgang von der schwarz-gelben Koalition gewählt. Fünf Jahre später, als der regierenden rot-grünen Koalition in der Bundesversammlung sieben Stimmen zur absoluten Mehrheit fehlten, schickte die Union die Ilmenauer Professorin Dagmar Schipanski gegen Johannes Rau ins Rennen.
Die Hoffnung auf Solidarität der Frauen erfüllte sich damals aber ebenso wenig wie die von SPD und Grünen 2004 und ihrer Kandidatin, der angesehenen Professorin Gesine Schwan. Es stellte sich allerdings heraus, dass die von der Union zum Bundesversammlungsmitglied vorgeschlagene Prinzessin Gloria von Thurn und Taxis ihre Stimme statt Horst Köhler lieber der Kandidatin der SPD gegeben hatte. Da der schon im ersten Wahlgang mit der erforderlichen absoluten Mehrheit gewählte Köhler nicht alle Stimmen aus der Union und FDP, die ihn vorgeschlagen hatten, bekam, müssen wohl einige andere aus diesem Lager für Gesine Schwan gestimmt haben.
Die Berliner in der Bundesversammlung:

Nun fragt man sich, weshalb die Parteien glauben, nur Stars und andere prominente Persönlichkeiten für die zur Hälfte aus allen Abgeordneten des Bundestages und den von den Landesparlamenten gewählten Mitgliedern bestehende Bundesversammlung nominieren zu müssen. Denn die Mitgliedschaft der Bundesversammlung setzt nicht wie die der Kommunal-, Landesparlamente und des Bundestages umfassende Fähigkeiten und Kenntnisse voraus. Hier müssen die Mitglieder nur über die deutsche Staatsbürgerschaft und – eine Selbstverständlichkeit – gute Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift verfügen sowie Sympathie für die Kandidatin oder den Kandidaten der Partei haben, die sie vorgeschlagen hat.
Wenn schon der Bundestag und die Landtage – leider! – nicht ein Spiegelbild der gesamten Gesellschaft darstellen, müsste die Bundesversammlung das tun. Warum soll nicht eine Krankenschwester, die nachts auf der Intensivstation schwerstkranke Menschen betreut, einmal das Staatsoberhaupt wählen? Hätten nicht Frauen und Männer, die uns von frühmorgens bis spät in die Nacht mit Zug, Bus und Straßenbahn sicher zum Ziel bringen, auch verdient, Mitglied der Bundesversammlung zu werden. Eine Mutter, die Drillinge mit schwerster Körperbehinderung geboren hat und erzieht, könnte ebenfalls als Vorbild in die Bundesversammlung entsandt werden.
Bekannte Verbandsfunktionäre, Autorinnen und Autoren, Film- und Fernsehstars genießen genug Aufmerksamkeit und Annehmlichkeiten. Sie brauchen nicht die Bundesversammlung zur Pflege ihrer Eitelkeit. Es ist höchst löblich, dass die SPD dieses Mal die Behindertensportlerinnen Verena Bentele, Kirsten Bruhn und Vanessa Low in die Bundesversammlung entsendet! Denn: Sportlerinnen und Sportlern mit Behinderung wird trotz außergewöhnlicher Leistungen bei Weitem nicht so viel Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil wie ihren Kolleginnen und Kollegen ohne Behinderung!
Der Autor ist Journalist und lebt in Frankfurt.
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