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Das Wahlrecht muss reformiert werden.

© dapd

Wahlrecht: Die Tücke der Listen

Der Bundestag muss ein neues Wahlrecht für die Wahl 2013 erarbeiten. Das Verfassungsgericht hat das verlangt, wie schon andere Korrekturen zuvor. Die Gefahr wächst, dass längerfristig ein reines Verhältniswahlrecht entsteht, bei dem nur noch nach Listen gewählt wird.

Wie weit ist der Weg von Karlsruhe nach Weimar? Beim Wahlrecht wird er immer kürzer. Noch einige wegweisende Urteile des Bundesverfassungsgerichts, noch einige nachklappende Beschlüsse eines zunehmend ratlosen Bundestags – und wir werden wieder beim reinen Verhältniswahlrecht landen, wie es in der Weimarer Republik galt. Denn dieses ist offenbar das Karlsruher Modell. Anders lassen sich die Entscheidungen von dort kaum verstehen. Es ist aber der falsche Weg.

Wahlsysteme sind für Demokratien identitätsstiftend, wie man in Großbritannien sieht, wo bei allen Defiziten das Mehrheitswahlrecht als sehr (basis-)demokratisch gilt. In Deutschland ist nach gut 60 Jahren Erfahrung mit einem System, das die herrschende Expertenmeinung als „personalisierte Verhältniswahl“ und eine ansehnliche Minderheit mit guten Gründen als Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahl betrachtet, etwas Ähnliches festzustellen: Zufriedenheit. Die Bürger haben das auch aus Weimarer Erfahrungen resultierende Wahlsystem angenommen, es gibt keinen verbreiteten Unmut, trotz einiger Ungereimtheiten, die alle Wahlsysteme haben. Das perfekte Wahlrecht existiert nicht.

Leider ist das spezifisch deutsche System zu einer Spielwiese für spitzfindige Juristen und Mathematiker geworden, denen daran lag, aus eher kleinen Unzulänglichkeiten große Probleme zu machen. Und leider ist Karlsruhe diesen Weg mitgegangen. Mit der Entscheidung gegen das schwarz-gelbe Wahlgesetz vom Juli sind wir nun an einen entscheidenden Punkt gelangt, an dem sich die Frage stellt: Bleiben wir bei dem bewährten System oder wandern wir nach Weimar?

Bildergalerie: Karlsruhe erklärt Wahlrecht für verfassungswidrig

Der Bundestag muss jetzt für 2013 ein Übergangswahlrecht schaffen, weil das Gericht einen Ausgleich der Überhangmandate fordert. Es ist nun fast sicher, dass der nächste Bundestag größer wird, weil es Zusatz- und/oder Ausgleichsmandate gibt. Er wird aber dadurch nicht nur größer, sondern seine Zusammensetzung wird erstmals stärker von Listen als von Direktmandaten geprägt sein. Bisher galt grundsätzlich die 50:50-Regel (was dann allerdings durch Überhangmandate wieder etwas verschoben wird). 2013 könnte das Verhältnis vielleicht nur 45 zu 55 sein. Will man aber Überhangmandate proportional völlig neutralisieren, dann ist man schnell bei einem Verhältnis von 30 zu 70. Warum dann nicht gleich die hundertprozentige Lösung?

Nun hat das reine Verhältniswahlrecht zwar einiges für sich. Es ist gerecht, bildet den Wählerwillen gut ab, ist einfach und transparent. Es ist aber „idealtypisch“ immer eine Wahl nur nach Listen. Ohne kleine Wahlkreise, ohne großen Einfluss der politischen Grundorganisationen. Die reine Verhältniswahl ist kein Bürgerwahlrecht mit Basisbindung, sondern ein System nach dem Geschmack technokratischer Parteieliten. Die schon heute bestehende Tendenz, dass Parteilisten von oben herab nach Proporz- und (vermeintlichen) Kompetenzkriterien gestaltet und dann den Listenparteitagen als unauflösliches Paket vorgelegt werden, würde dominant. Es gäbe nicht mehr den Ausgleich von unten, von den Wahlkreisen her, wo heute immerhin die Hälfte der Abgeordneten bestimmt wird. Was bei FDP, Grünen und Linken schon gilt, träfe dann auch die Volksparteien – die unbedingte Herrschaft der Parteiführung.

Zumal wenn es nur noch Bundeslisten gäbe – eine Lieblingsidee der Verfechter der reinen Lehre, weil sie natürlich ein Höchstmaß an proportionaler Gerechtigkeit liefern. Dann wäre auch die Machtbremse der Landesverbände weg. Der Einwand, dass offene, also vom Wähler gestaltbare Listen (durch gezieltes Ankreuzen bestimmter Kandidaten) und ein Mehr an direkter Demokratie dieses Manko der reinen Verhältniswahl mit Mammutlisten ausgleichen können, ist bestenfalls ein schwacher Trost. Daher sollten sich die Vernünftigen im Bundestag nicht beirren lassen: Reformen nur im Rahmen des bestehenden Wahlrechts – keine Weichenstellung Richtung Weimar.

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