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Meinung: Wahlzettel und Denkzettel

Zwischen Zweckoptimismus und Gewalt: Der Irak wählt das erste freie Parlament

Erneut haben sich Millionen von Irakern aufgemacht, das zu tun, was Al-Qaida-Terroristen als „Teufelswerk“ bezeichnen: Sie übten ihr Recht auf freie Wahlen aus und haben über das erste voll demokratisch legitimierte irakische Parlament abgestimmt. Zum ersten Mal haben sich auch viele Sunniten beteiligt.

Übergangsregierung, Wahlen zum Übergangsparlament, Verfassungsreferendum: Jedes Mal, wenn die Iraker in den letzten Jahren einen weiteren Schritt zur Selbstbestimmung gemacht haben, war die Hoffnung groß, dass es diesmal die entscheidende Wende sein könnte, von der an die Terroranschläge kontinuierlich abnehmen würden. Tatsächlich hat sich die Sicherheitslage in Teilen des Landes stetig verschlechtert. So mag heute nicht einmal mehr der in Sachen Irak zum Zweckoptimismus verdammte US-Präsident George W. Bush daran glauben, dass die Anschläge nach den Wahlen aufhören. In Washington macht sich langsam Resignation breit. Und selbst jene Europäer, die den Amerikanern einen Denkzettel gewünscht haben, graust es inzwischen vor dem Abgrund an Gewalt, der sich im Irak auftut.

Angesichts dieses Pessimismus kommt die erstaunlichste Nachricht der letzten Tage aus dem Irak selbst: Laut einer Umfrage, die die Universitäten von Oxford und Bagdad im Auftrag mehrerer Medienunternehmen weltweit, darunter „Spiegel“ und BBC, durchgeführt haben, sehen 70 Prozent der Iraker optimistisch in die Zukunft und glauben, dass es ihnen in einem Jahr weit besser geht. Ebenso viele Iraker sagen, dass ihre persönliche Lage gut oder gar sehr gut sei. Selbst die Regierung bekommt in allen Regionen außer dem sunnitischen Zentrum hohe Zustimmungswerte und zwei Drittel der Wähler haben Vertrauen in die Armee und darin, dass sie die Lage meistern kann. 57 Prozent der Iraker halten Demokratie momentan für das beste System, gleichzeitig verlangt eine knappe Mehrheit für die Zeit nach den Wahlen zunächst nach einem starken Führer.

Die Umfrage zeigt, dass es zwei Iraks gibt: Den, den wir täglich im Fernsehen und in der Zeitung erleben. Und jenen, den eine Mehrheit der Iraker als ihre Lebenswirklichkeit kennt. Es ist vor allem das sunnitische Dreieck zwischen Samarra, Falludscha und Ramadi, das am unsichersten ist. Daneben gibt es weite Teile des Landes, in denen die Menschen einigermaßen zurechtkommen.

Die Entwicklung des Iraks hält sowohl für das Pro-Kriegs- als auch das Anti-Kriegs-Lager schmerzhafte Lektionen bereit. Die Bush-Regierung musste erfahren, dass ihr naiver Sozialingenieursansatz, man müsse ein Volk nur befreien, um aus einem problematischen Staat ein demokratisches und befriedetes Mitglied der Weltgemeinschaft zu machen, so einfach nicht funktioniert. Ebenfalls falsch lagen die, die glaubten, Araber seien zur Demokratie weder fähig noch willens und dies hinter der Formel versteckten, man dürfe diese Regierungsform nicht von außen aufzwingen.

Der komplizierte, unperfekte aber doch bewundernswerte Weg zur Selbstbestimmung, den die Iraker bisher zurückgelegt haben, zeigt, dass es in arabischen Gesellschaften ein tief gehendes Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe gibt. Und dass es nicht darum geht, den Gesellschaften in der Region etwas aufzuzwingen, sondern vielmehr darum, den Menschen dort zu helfen, über ihre jeweilige Regierungsform selbst zu bestimmen.

Zweieinhalb Jahre nach dem – offiziellen – Ende des Irakkriegs ist die Lage in der Region also paradox. Kaum ein Araber möchte gerne von den Amerikanern befreit werden, schon gar nicht mit Hilfe eines Krieges. Es gibt aber auch nicht viele, die gerne weiter unterdrückt werden wollen. Der Irakkrieg hat in den arabischen Gesellschaften eine notwendige Debatte entfacht. Ihr Ausgang, wie das Schicksal des Iraks selbst, bleibt offen.

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