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Meinung: Wahr – und folgenlos

Von Robert von Rimscha

Das DIW hat passend zu Johannes Raus letzter großer Rede eine Umfrage veröffentlicht. Demnach vertraut kaum ein Drittel der Deutschen der Politik, den Gewerkschaften, Unternehmen, Medien oder Kirchen. Über 90 Prozent aber vertrauen Familie und Freunden. Vertrauen und Verantwortung, da hat Rau Recht, speisen sich aus Identität. Diese Identität aber hat immer weniger mit dem Staat, der Politik oder dem Gemeinwesen zu tun. Genau das ist – ja, was? Ein Faktum? Rau sagt: Das Kernproblem.

Da habe der Bundespräsident jedem etwas ins Stammbuch geschrieben, lauteten die Kommentare im Schloss Bellevue. Rau hatte Klartext geredet. „Erpresserische“ Lobbys, egoistische Firmenbosse, rein taktisch denkende Politiker, Ideen mit der Haltbarkeit „eines Bechers Joghurt“, sensationsgierige Journalisten – sie alle bekamen die Leviten gelesen. Rau legte den Finger in eine Wunde, die als Deutschlands schlimmste gelten kann. Die Mischung aus Miesepeterei, Zynismus und Ausstieg ist bedrohlich. Dieses Thema führt vieles zusammen, was Rau über die Jahre hinweg gesagt hat. Authentisch war er, der Bundespräsident. Und deutlicher als sonst.

Die Erkenntnis, da habe das Staatsoberhaupt jeden rangenommen, war für die einen das Salz in der Suppe. Und für die anderen das bei weitem Positivste, das ihnen zu Raus Vortrag einfiel. Dass heute fehlt, was man Kohäsion nennt, ist eine These, bei der sich Konservative und alte Sozialdemokraten begegnen. Werte – Heimat, Glaube, Familie – sind unzweifelbar eine Basis für Vertrauen und Verantwortung, die beiden Schlüsselbegriffe Raus. Manchen dieser Ideen würde sein möglicher Nachfolger Horst Köhler ohne Einschränkung zustimmen. Nur hat Rau diese Basis für jedes Engagement im Gemeinwesen eben auf recht kollektiv-etatistische, man könnte auch sagen: auf im Wortsinne illiberale Weise definiert. In einer Schlüsselpassage hat Rau bekannt, seiner Ansicht nach bedrohe die Wirtschaft die Freiheit des Einzelnen viel mehr als der Staat. Mehr noch: Nur der Staat könne den Bürger vor der Ökonomie schützen. Das ist schon starker Tobak. Zumindest aber ist hier Dissens erlaubt. Man kann ein gänzlich anderes Bild der deutschen Realitäten haben.

Das Wunschbild vom engagierten Miteinander unter der Obhut eines treu sorgenden Staates, das Rau entwirft, hat schon etwas von vergangenen Zeiten. Identität hat heute kaum mehr etwas mit jenen Institutionen zu tun, die er gestärkt sehen möchte. Eher schon mit Europa – abseits der Bürokratie. So steht zu befürchten, dass diese Rede Johannes Raus folgenlos bleiben wird.

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