zum Hauptinhalt
Der Dalai Lama.

© Reuters

Was die Deutschen lesen: Hilfe beim Betrachten der eigenen Innereien

Der Dalai Lama ist hier ein Bestseller: Beliebt sind in Deutschland Bücher, die dem Leser Innerlichkeit liefern. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Der Schriftsteller John Lanchester macht im „London Review of Books“ darauf aufmerksam, dass die amerikanische Sachbuch-Bestsellerliste von zwei Biografien angeführt wird, die das Leben von Technik-Vorkämpfern feiern: eines über die Gebrüder Wright, die am Strand von North Carolina mit den ersten Flugzeugen experimentierten, und ein anderes über Elon Musk, der in Kalifornien Elektroautos baut.

„Eine Bestsellerliste“, schreibt Lanchester, „ist kein Rorschachtest, aber sie vermag uns etwas über die Themen zu sagen, die eine Nation gerade bewegen. Die Gegenüberstellung der Geschichte der Wrights mit der von Musk legt nahe, dass Amerika über Innovation und neue Technologien nachdenkt, und vielleicht, dass es von Herzen an die neue Sache glauben will, glauben will, dass die neuen Erfindungen genauso wirkungsvoll sein werden, wie es die alten waren.“

Ein Rorschachtest ist es nicht, trotzdem blickte der „Perlentaucher“ daraufhin kurz auf die deutschen Spitzenreiter – „Der Appell des Dalai Lama an die Welt“, ein Gesprächsband mit Franz Alt und Jürgen Todenhöfers „Inside IS. 10 Tage im ,Islamischen Staat‘ “ – und schrieb: „Man möchte gar nicht darüber nachdenken, was das über Deutschland aussagt“.

Diese Bücher sind Ausdruck einer Suche nach dem richtigen Leben

Die aktuelle vom „Buchreport“ erfasste Liste vermittelt den Eindruck, dass Deutschland auf der Suche ist, auf der Suche nach Werten und Orientierung: Der Dalai Lama ist zwar auf Platz drei abgerutscht, dafür führt nun Hamed Abdel Samads „Mohammed – eine Abrechnung“. Gleichzeitig ist Franz Alt mit einem zweiten Buch „Was Jesus wirklich gesagt hat“ vertreten, dazwischen stehen Navid Kermanis „Ungläubiges Staunen“, Todenhöfers Bericht von den sunnitischen Terroristen, Udo Ulfkottes „Mekka Deutschland“ und gleich zwei Bücher des buddhistischen Mönchs Ajahn Brahm. Es liest sich wie die Literaturliste eines Ethik-Kurses einer Berliner Sekundarschule. Dass dazu noch eine Reihe semi-philosophischer Auseinandersetzungen kommt, passt ins Bild: Rüdiger Safranski über „Zeit“, Wilhelm Schmid über „Gelassenheit“ und Peter Wohllebens über „Das geheime Leben der Bäume“. Diese Bücher sind Ausdruck einer Verinnerlichung, der Suche nach dem richtigen Leben. Es geht dabei auch um einen Aufbruch, aber nicht um den in die Zukunft oder neue Technologien, sondern um den Aufbruch ins Innere. Es ist die Suche nach einer säkularen Ethik, um die Selbst-Verbesserung bei der seit Jahren Franz Alt oder Hans Küng oder Eugen Drewermann oder eben der Dalai Lama mit ihren Büchern assistieren. So banal im Vergleich die Sachbuch- Bestseller in England wirken – Kochbücher und Ausmalbücher für Erwachsene –, so sind sie doch eines: Anleitungen zum Tätigwerden. Das deutsche Sachbuch richtet sich dagegen an den kontemplativen Leser. Selbst eine Abrechnung mit dem Islam lässt sich so als innerarabische Debatte aus der Distanz verfolgen.

Möglicherweise verliert die Vergangenheit als Bezugspunkt für diese Suche nach Orientierung langsam an Bedeutung. Das Buch „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“ des ehemaligen Chefs des British Museum und Übergangsintendanten des Humboldt-Forums, Neil MacGregor, ist der einzige Rückgriff auf die deutsche Geschichte in der aktuellen Bestsellerliste.

Die Faszination der Deutschen fürs Skatologische

Vor ein paar Jahren erklärte der amerikanische Journalist Michael Lewis in seinem Buch „Boomerang“ das Fehlverhalten der Deutschen in der Finanzkrise 2008 mit ihrem analen Charakter: „Wer einen Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel hat und im Geheimen von Schmutz und Chaos fasziniert ist, der bekommt früher oder später Probleme.“ Solange ein Wertpapier äußerlich sauber wirkte, lautete Lewis’ Theorie, konnten die Investmentbanker der Wall Street den Deutschen jeden Dreck verkaufen. Dieser Bezug auf den nationalen Charakter der Deutschen wirkte so lange krude, bis sich das Sachbuch „Darm mit Charme“ über Monate an der Spitze der Bestsellerlisten halten konnte: Giulia Enders beschreibt darin die zentrale Bedeutung des Darms für das menschliche Wohlergehen. Es führt den Leser ins Innere seines eigenen Körpers und scheint die von Lewis unterstellte egozentrische Faszination der Deutschen fürs Skatologische zu belegen.

In einer Sachbuch-Phase, die auch dadurch definiert ist, dass fast alle Bücher zum Euro geschrieben (Hans-Werner Sinn liefert nächste Woche noch eines) und die Bücher zur Flüchtlingskrise noch nicht fertig sind, zieht sich Deutschland auf sich selbst zurück. Die beliebtesten Bücher sind die, die den Leser bei diesem Verinnerlichungsprozess begleiten. Was also sagt die Sachbuchliste über die Deutschen aus? Dass sie – noch immer, schon wieder? – nach Orientierung suchen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false